Schon vor Dürrenmatt gab es Schriftsteller, welche die Figur des Minotaurus auftreten ließen. Während er aber meist die Rolle als Monster oder Ungeheuer (z. B. in „Die göttliche Komödie“ von Dante Alighieri) einnahm, betrachtet Dürrenmatt weniger dessen Wirkung auf andere, sondern beschäftigt sich mit dessen Innenleben. Was fühlt er? Welche Wünsche hat er?
Dürrenmatts „Minotaurus“
Für die Rezension der Ballade habe ich den Vortrag von Monika Schmitz-Emans: „Minotaurus. Dürrenmatt entdeckt ein mythisches Monster der Moderne“, der in Swiss National Library aufgerufen werden kann, zur Hilfe genommen. Der Vortrag erfolgte als Teil der Ringvorlesung: Dürrenmatt von A bis Z.
Wie schon mehrfach erwähnt, wurde Dürrenmatt schon früh durch den Mythos des Labyrinths beeindruckt.
„Zum Labyrinth gehört der Minotaurus. Dieser ist eine Ungestalt, als solche ist er das Bild des Einzelnen, des Vereinzelten. Der Einzelne steht einer Welt gegenüber, die für ihn undurchschaubar ist: Das Labyrinth ist die Welt vom Minotaurus aus gesehen.“
(Friedrich Dürrenmatt, Literatur und Kunst, Essays und Reden, Zürich 1980, S. 213, Persönliche Anmerkung).
„Am liebsten jedoch erzählte mein Vater vom königlichen Theseus, wie er die Räuber Prokustes und Pityokamptes besiegte, und vom Labyrinth des Minos, von Dädalus erbaut, den ungefügen Minotaurus gefangen zu halten; …“
(Stoffe I, S. 23).
Der Minotaurus diente Dürrenmatt oft als Identifikationsfigur: Gulliver, der Zwerg, Entgrenzung, Prothesenträger.
Aus seinen Erinnerungen in „Labyrinth“ wissen wir, dass sich Dürrenmatt in der Stadt unwohl fühlte. „Das Labyrinth wurde Wirklichkeit“.
Der Mythos des Minotaurus
Der Stoff der Ballade entstammt der griechischen Mythologie: Pasiphae, die Tochter des Sonnengottes, empfing den Minotaurus, nachdem sie, entsprechend ihres eigenen Wunsches, eingeschlossen in eine künstliche Kuh, von einem, dem Poseidon geweihten, weißen Stier begattet worden war.
Nach der Geburt wuchs der Minotaurus zuerst schlafend zwischen Kühen heran. Dann baute Dädalos (von Dürrenmatt auch Daidalos genannt) das Labyrinth, um die Menschen vor dem Wesen und das Wesen vor den Menschen zu schützen. Aus dieser Anlage fand keiner den Ausgang. Die verschachtelten Wände waren aus Glas. Alles spiegelte sich dadurch mehrfach wieder.
Der Minotaurus suchte nach Wesen, die ihm gleich oder zumindest ähnlich waren. Was war die Absicht, als er sich der Jungfrau näherte? Wollte er sie tatsächlich töten? Wollte er sie fressen oder war er, wie schon von Dürrenmatt erwähnt, ein Vegetarier?
Das Tanzen spielt hier eine große Rolle. Dieses Tanzen wird durch die Glaswände gespiegelt. Es scheint, als ob viele Paare tanzen.
„er tanzte sein Herandrängen, und es tanzte sein Abdrängen, er tanzte sein Eindringen, es tanzte sein Umschlingen“
Der Minotaurus, weder Tier noch Mensch, ist zu keiner intellektuellen Leistung fähig. Wusste er, dass er das Mädchen nahm, dass er sie tötete. Wusste er überhaupt den Unterschied von Leben und Tod? Weitere Anmerkungen
Theseus spiegelt, mittels einer Stiermaske, dem Minotaurus vor, er sei seinesgleichen. Das Wesen lässt sich täuschen und wird getötet.
Der Zusammenhang mit „Der Auftrag“
Die F. oder Tina laufen ins Labyrinth als Opfer für den Minotaurus. Erst allmählich wurde sie sich der Furcht bewusst, die sich ihrer bemächtigt hatte, seit sie in dieser unterirdischen Anlage war, eine Erkenntnis, die sie bewog, statt das Unvernünftigste das Vernünftigste zu tun.
Achilles übernimmt in der Novelle den Platz des Minotaurus, der auch göttlicher Abkunft war. Auch ihn hat man zum Schutz der Anderen in das Labyrinth gesperrt. Und der Minotaurus hat das Mädchen getötet, was man ihm opferte, wenn auch unabsichtlich. Polyphem reicht Achilles das Opfer. Er wird in der Rolle des Minos gesehen, der Achilles das Geforderte zu gegebener Zeit zuführt.
Auch die Sequenz des Mordes bzw. des Todes erinnert an den Tod des Minotaurus, welcher nicht vor Theseus floh, sondern dem Tod glücklich entgegen ging, in der Hoffnung seinesgleichen gefunden zu haben, und nicht mehr nur noch ein Spiegelbild seiner selbst sondern ein anderes Seiendes (siehe hierzu auch das Höhlengleichnis).
„..und wie Achilles vor ihr stand, halb nackt, staubbedeckt, als käme er von einem Schlachtgetümmel, die alten Militärhosen zerfetzt, die nackten Füße sandverkrustet, die Idiotenaugen weit geöffnet, wurde sie vom ungeheuren Anprall der Gegenwart erfasst, von einer noch nie gekannten Lust zu leben, sich auf diesen Riesen, auf diesen idiotischen Gott zu werfen, die Zähne in seinen Hals zu schlagen, plötzlich ein Raubtier geworden, bar jeder Menschlichkeit, eins mit dem, der sie vergewaltigen und töten wollte, eins mit der fürchterlichen Stupidität…“
Dürrenmatt: Der Auftrag.
Dürrenmatt geht in einem Gespräch mit Franz Kreuzer, dem damaligen ORF-Chefredakteur, 1986 auf das Verhältnis Minotaurus und der Tod ein. Es ist eigentlich fast gleichgültig, ob es den Minotaurus gibt oder nicht. Sicher ist der Tod. Die ins Labyrinth hineinlaufenden, werden in jedem Fall ohne den Ariadnefaden sterben, ob durch Hunger, Angst oder durch das Wesen selbst, welcher bei Dürrenmatt wohl primär als der Tod fungiert. Er hält die Menschen durch die Sterblichkeit im Labyrinth des „Menschseins“ fest.
Fazit/Kritik „Der Minotaurus“
Dürrenmatt arbeitete an der Ballade bereits 1984. In dieser Zeit begann die Beziehung zu seiner zweiten Frau Deborah Kerr, die den Film Portrait eines Planeten drehte. In diesem Film gibt es eine Szene, in der die Geschichte des Minotaurus mündlich vorgetragen wird.
Im Mai 1985 wurde die Ballade dann erstmals unter dem Titel Minotaurus, Eine Ballade. Mit Zeichnungen des Autors veröffentlicht. Bezeichnenderweise trug die Ballade im Manuskript noch den Untertitel Ein Ballett.
Für mich ist „Der Minotaurus“ eines der emotionalsten und damit auch meist bewegenden Stücke Friedrich Dürrenmatts. Durch dieses Stück findet man den Weg zum Verständnis Dürrenmatts Denkens. Der Minotaurus ist immer in der Welt Dürrenmatts vorhanden.
Links
- Dürrenmatts Lebenslauf
- Website der Chicago University Press über Friedrich Dürrenmatt
- Ringvorlesungen zum 100. Geburtstag von Friedrich Dürrenmatt, gehalten Herbst 2020
- Ringvorlesungen „Dürrenmatts Welten“
- Ausstellung: Stoffe. Eine Projektion zu F. Dürrenmatt
- „minotaurus“ – Tanzkompanie bo komplex (Trailer)
- Programm der Ringvorlesung
- Dürrenmatt von A bis Z. Ringvorlesung im SLA (PDF, 222 kB, 27.08.2020)
- Livestreams und Aufzeichnungen auf YouTube
- 17.09.2020, 18:15 Uhr, Ulrich Weber: Anfangen. Eine kleine Archäologie der Kreativität
- 24.09.2020, 18:15 Uhr, Moritz Wagner: Distanz. Zu einem poetologischen Kernbegriff Dürrenmatts
- 01.10.2020, 18:15 Uhr, Eduard Kaeser: Einstein. Die Dramaturgie des Zufalls – Dürrenmatt und die moderne Physik
- 08.10.2020, 18:15 Uhr, Pierre Bühler: Gelächter. Witz, Ironie und Humor bei Dürrenmatt
- 15.10.2020, 18:15 Uhr, Lucas Marco Gisi: Ich. Autorfiguren im Werk Dürrenmatts
- 22.10.2020, 18:15 Uhr, Christine Weder: Körper. Prothesen, Zwerge, Tiermenschen
- 29.10.2020, 18:15 Uhr, Monika Schmitz-Emans: Minotaurus. Dürrenmatt entdeckt ein mythisches Monster als Reflexionsfigur der Moderne
- 05.11.2020, 18:15 Uhr, Andreas Mauz: Pilatus. Zu Dürrenmatts narrativer Christologie
- 12.11.2020, 18:15 Uhr, Rudolf Probst: Querfahrt. Assoziation und Erinnerung im Schreibprozess der «Stoffe»
- 19.11.2020, 18:15 Uhr, Peter Rusterholz: Schauspiel. Das Rätsel und das Glänzen des «Meteors»
- 26.11.2020, 18:15 Uhr, Peter Utz: Tunnel. Dürrenmatts literarische Sondierungen im helvetischen Untergrund
- 03.12.2020, 18:15 Uhr, Alexander Honold: Welt, verkehrte. Eine Exkursion in Dürrenmatts «Durcheinandertal»
- 10.12.2020, 18:15 Uhr, Julia Röthinger: Vorbilder. Das Welttheater Dürrenmatts als Andenken an Aristophanes
- 17.12.2020, 18:15 Uhr, Ursula Amrein: Zufall. Dürrenmatt und der Lauf der Dinge
- Abschlussveranstaltung: 17.12.2020, 20 h, Jens Nielsen: Das Hirn. spoken