Paul Auster gelang es in seinem letzten Roman, mit Baumgartner einen Charakter zu erschaffen, der Tiefe, Humor und unbeholfenen Charme besitzt. Es ist eine Freude und eine Bereicherung, Baumgartner kennenzulernen.
„Baumgartner“ Paul Austers letzter Roman
Ich bin ein großer Fan des amerikanischen Schriftstellers Paul Auster. Mit herzlicher Anteilnahme habe ich Ende letzten Jahres die Pressenachricht seiner Frau Siri Hustvedt gelesen, dass Paul Auster sich einer Krebstherapie unterziehen würde.
Nun ist Paul Auster gestorben. Die zahlreichen Nachrufe lassen erkennen, wie groß seine Reichweite war. Von „Krimi trifft Kafka“ bis zu „er erzählte die Wirklichkeit“ lobten die Kritiker seine Erzählkunst.
Seit 1989 erschienen seine zahlreichen Werke, die in über 40 Sprachen übersetzt wurden, im Rowohlt Verlag. Von seinen über 30 Büchern spielten die meisten in New York, dem Ort an dem er selbst lebte. Der Sohn jüdischer Einwanderer wurde durch seine „New York Trilogie“ berühmt. Seine Charaktere waren nicht einfach. Sie waren auf der Suche. Eine Suche, die oftmals in einem dunklen Labyrinth mit dem Verlust des eigenen Ichs endeten. Oder, wie Spiegel Kultur es bezeichnete:
„Das Unvorhersehbare, zufällige Ereignisse und fantastische Wendungen prägen ihr Dasein und geben Anlass zu philosophischen Betrachtungen über Kunst und Kultur, Identität, Leben und Tod.“
Seine Biografien „Winterjournal“ (zur Rezension) und „Bericht aus dem Inneren“ (zur Rezension) zeigen viel von Paul Austers Persönlichkeit.
Am 13.02.2024 erschien noch ein politischer Essay über Waffengewalt in den USA „Bloodbath Nation“. Paul Auster war ein überzeugter Demokrat.
In der ARTE Mediathek ist der Film „Paul Auster – Was wäre wenn“ abrufbar. Dieser Film nimmt Bezug auf „4-3-2-1“, vielleicht seinen wichtigsten Roman.
November 2021 schlug das Schicksal zu: Zuerst starb seine zehn Monate alte Enkeltochter und ein halbes Jahr später deren Vater Daniel, Austers Sohn aus erster Ehe mit Lydia Davis.
„Baumgartner“, sein letzter Roman, umfasst weniger als 200 Seiten und hat dennoch viel zu sagen.
„Sie fehlt mir“
S. T. Baumgartner ist ein 72-jähriger Professor der Phänomenologie, der gerade an einem Buch über Kierkegaard schreibt. Er ist Witwer. Das Buch beginnt 12 Jahre nach dem Tod seiner Frau, deren Verlust Baumgartners Leben und Alltag bestimmt. Alles in seinem Haus erinnert ihn an seine große Liebe.
„…wenn man so tief miteinander verbunden war, wie sie beide es waren, als sie noch lebte, kann dies sich auch im Tode fortsetzen, denn wenn einer vor dem anderen stirbt, kann der Lebende den Toten in einer Art Schwebezustand zwischen Leben und Nichtleben halten, doch wenn auch der Lebende stirbt, ist es aus damit, und das Bewusstsein des Toten ist auf ewig ausgelöscht.“
Wer befürchtet, dass „Baumgartner“ ein trauriges Buch ist, hat weit gefehlt. Nein – ich möchte es mit den Worten Julia Schröders im SWR Kultur Podcast beschreiben: „Wir müssen uns Baumgartner als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Dieser Hinweis auf Sisyphos trifft hier genau ins Schwarze. Jeden Tag überwindet er seine Trauer über den Verlust, der am nächsten mit ganzem Gewicht wieder über ihn hereinbricht und den er auch an diesem Tag durchleben muss. Aber nur so kann er ihn bewältigen. Das gibt seinem Leben einen Sinn.
Und trotzdem blitzt ein neues Verliebtsein in sein Leben, obwohl er immer wieder erotische Liebesbriefe an seine Frau schreibt, die er abschickt. Bei der Ankunft dieser Briefe, liest er sie mit den Augen seiner Frau.
Dieser Hinweis auf Sisyphos trifft hier genau ins Schwarze. Jeden Tag überwindet er seine Trauer über den Verlust, der am nächsten mit ganzem Gewicht wieder über ihn hereinbricht und den er auch an diesem Tag durchleben muss. Aber nur so kann er ihn bewältigen. Und trotzdem blitzt ein neues Verliebtsein in sein Leben,
„Während Baumgartner sich sechsundvierzig Jahre danach ein zweites Mal in seinem Leben anschickt, die Heiratsfrage zu stellen, ist seine größte Sorge, dass Judith ihm einen Korb geben wird, weil er zu alt für sie ist.“
Sie ist zwar tot, aber solange er sie in sein Leben einbezieht, ist sie immer noch da. Er kann und will sie nicht sterben lassen, weil er sie braucht. Er liest in ihrem letzten autobiographischen Stück.
„Aus der Schachtel in der untersten Schublade des Aktenschranks: Annas letztes autobiografisches Stück, geschrieben weniger als ein Jahr vor ihrem Tod, jedoch zeitlich weit in die Vergangenheit zurückreichend.“
Kritik/Fazit „Baumgartner“
Es ist ein leises Buch, das einen trotz allen Ernstes auch schmunzeln lässt. Es zeigt, was letztendlich das „Mensch-Sein“ ausmacht. Obwohl das Buch gerade mal 170 Seiten zählt, hat es gewichtigen Inhalt.
Wieder einmal ist es Paul Auster gelungen, mich zum Nachdenken zu bewegen. Besonders folgendes Zitat verdient es besonders.
„Muss ein Ereignis wahr sein, um als wahr akzeptiert zu werden, oder macht schon der Glaube an die Wahrheit ein Ereignis wahr, selbst wenn das angeblich Geschehene gar nicht geschehen ist?“
Es war mir eine Freude, Baumgartner kennengelernt zu haben. Ich kann das Buch herzlich empfehlen.
Links
Spiegel Kultur
Der Autor beim Rowohlt Verlag
ARTE Mediathek „Paul Auster – Was wäre wenn“
„Baumgartner“ Julia Schröder SWR Kultur Journal
Literaturkritik
Watchareadin
„Winterjournal“ (zur Rezension)
„Bericht aus dem Inneren“ (zur Rezension)
„Das rote Notizbuch“ (zur Rezension)
Siri Hustvedt auf Schreibblogg