„Der Auftrag – oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ Friedrich Dürrenmatt (Rezension)

Novelle in vierundzwanzig Sätzen

Die Frau im roten Mantel

„Der Auftrag“ geht auf Charlotte Kerr, Dürrenmatts zweite Ehefrau zurück. Sie hatte vor, Ingeborg Bachmanns „Der Fall Franza“ zu verfilmen. Diesen Ansatz zu dem Filmprojekt machte Dürrenmatt letztendlich zu seinem eigenen Text, den er Charlotte Kerr widmete.

Charlotte Kerr schrieb das Buch „Die Frau im roten Mantel“. Zu Beginn des Buches erzählt Charlotte Kerr, wie sie auf „Der Fall Franza“ stieß.

„Ich begann zu lesen. Ich las bis zum Ende. Ich rief meine Cutterin an: „DER FALL FRANZA wird mein erster Spielfilm.“ Ich war elektrisiert. Ich erkannte in der Frau, die da in die Wüste geht, um sich selbst zu finden, mich selbst. „Die Wüste ist etwas Absolutes, etnweder du gehst dran zugrunde oder du findest zu dir.“

Kerr, Charlotte: Die Frau im roten Mantel. S. 5.

Ich höre gerne das Hörbuch zum Buch, weil der Vortrag immer auch ein wenig Interpretation ist, und ich dadurch oftmals auf eine weitere Sichtweise aufmerksam wurde. Hier freute ich mich besonders, weil Charlotte Kerr und Gert Heidenreich lesen.

Das Hörbuch ist wie das Buch im Diogenes Verlag erschienen. Das Hörbuch des 1986 veröffentlichen Textes, erschien am 3.07.2009 – nach Dürrenmatts Tod. Die Länge beträgt 3 Stunden und 22 Minuten.

Zusammenfassung/Inhalt „Der Auftrag“

„Was wird kommen? Was wird die Zukunft bringen? Ich weiß es nicht, ich ahne nichts. Wenn eine Spinne von einem festen Punkt sich in ihre Konsequenzen hinabstürzt, so sieht sie stets einen leeren Raum vor sich, in dem sie nirgends Fuß fassen kann, wie sehr sie auch zappelt. So geht es mir, vor mir stets ein leerer Raum; was mich vorwärtstreibt, ist eine Konsequenz, die hinter mir liegt. Dieses Leben ist verkehrt und grauenhaft, nicht auszuhalten.

Kierkegaard

Tina von Lambert wird am Fuße der Al-Hakim-Ruine vergewaltigt und tot aufgefunden. F. ist eine durch Filmporträts bekannt gewordene Regisseurin, die das Tinas Schicksal rekonstruieren möchte. Dabei gerät sie in große Gefahr.

Ich möchte gar nicht weiter auf den Inhalt hier eingehen, weil der Text äußerst spannend ist. Ich kann nur empfehlen, die Novelle zu lesen. Aber ich möchte auf einige von Dürrenmatts Motive eingehen, die natürlich einiges vom Inhalt preisgeben.

Dürrenmatts Motive in „Der Auftrag“

Viele Textstellen lassen den Leser an das Labyrinth denken. Es ist allgegenwärtig in ‚…den unterirdischen Anlagen…‘, der unterirdischen Gefängniswelt. Das erinnert auch, an den auch im Band 26 der Werkausgabe, veröffentlichtem Text „Minotaurus“ und seinem Gefängnis. (Rezension folgt).

Auch Spuren des Höhlengleichnisses (Platon) lassen sich finden. Der Ehemann konnte seine eigene Frau nicht identifizieren. Er hatte also nur nach dem ersten Anschein entschieden, dass es Tina sei. Er hatte keine wirkliche Kenntnis seiner Frau. – er kannte nur die Schattenbilder, die in der Boulevardpresse gezeichnet wurden. Und die waren keinesfalls wie bisher beschrieben, nämlich dass es sich um zwei sich gegenseitig belauerten und beobachteten Menschen handelte, die sich voneinander bedroht fühlten.

Vielleicht sind die produzierten Medienbilder, die Schattenbilder Platons und wir, die Rezipienten, sind nicht mehr in der Lage, die vorgezeigten Augenblickdarstellungen von einer sich ständig in Bewegung befindenden Realität zu unterscheiden.

Beobachtung – um Gott zu ersetzen

Schon der Buchtitel „Der Auftrag – oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ weist darauf hin, dass die Beobachtung in der Novelle eine wichtige Rolle einnimmt. Durch dieses Verhalten, das in der Novelle geschildert wird, findet ein ständiger Wechsel zwischen Subjekt- und Objektebene statt. Der Mensch wird zum Objekt.

„…überhaupt sei, was sich zwischen denen, die ihn beobachteten, und ihm abspiele, der seine Beobachter beobachte, für unsere Zeit symptomatisch, jeder fühle sich von jedem beobachtet und beobachte jeden, der Mensch heute sei ein beobachteter Mensch, der Staat beobachte ihn mit immer raffinierteren Methoden“.

Satz 5.

Wie schon erwähnt, wurde der Auftrag 1986 geschrieben. Was würde Dürrenmatt heute wohl dazusagen, dass wir uns in den sozialen Medien so offen darlegen und uns gegenseitig (ver)folgen?

„Der Auftrag“ hat einige literarische Vorgänger:

Isaac Asimov: Das Chronoskop: Wissenschaftler entwickeln eine Zeitbetrachtungsmaschine, deren Benutzung den Bürgern von der Regierung des utopischen Staates verhindert wird. Sie wird lediglich von einer Art Geheimdienst benutzt. Der Gebrauch dieser Maschine wird mit Verweis auf den Verlust der individuellen Intimsphäre verboten. Die Erzählung erschien 1956.

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum: Böll kritisiert, dass wir die uns vorgeführten Bilder der Medien ohne Skrupel werten. Bilder, die uns von den Medien, mithilfe der Kameraaufnahme und mittels öffentlichen Interesses bzw. der öffentlichen Meinung, gestellt werden und dadurch eine künstlich konstruierte Wahrheit darstellen. Wir kennen keinesfalls die Umstände, wie es zu dieser Augenblickaufnahme kam, noch die dazugehörigen Informationen, um die Situation tatsächlich relativ objektiv beurteilen zu können.

Fazit/Kritik „Der Auftrag – oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“

Es ist kaum zu glauben, aber „Der Auftrag“ hat wirklich nur vierundzwanzig Sätze. Auf den ersten Blick sind diese vierundzwanzig Sätze der Medienkritik gewidmet. Aber nicht die Medien sind es, die Dürrenmatt kritisiert, sondern wohl eher die Lebensweise und die Einstellung des Menschen, die von den Medien hervorgerufen werden.

Durch die Absurdität des eigenen individuellen Lebens, bzw. der Sinnentleerung, sucht der Mensch nach Tugenden. Da der heutige Mensch Gott nicht mehr wie im Mittelalter, als das höchste Gut und die höchste Instanz anerkennt, wären wir selbst die moralische einzige Instanz, die dazu legitimiert wäre, uns Gesetze zu geben.

Durch die Medien wird ein öffentliches Interesse und eine öffentliche Meinung entwickelt, die durchaus nicht der individuellen Meinung des Einzelnen entsprechen muss. Gruppendynamik und Interessengemeinschaften wirken darauf ein.

Wir vergessen allzu oft, dass die Bilder, die wir sehen, zuvor durch eine Zensur gingen: Der Kameramann bzw. Fotograf entscheidet, welche Bilder er für würdig hält, sie mit der Kamera einzufangen. Der Journalist bzw. Kommentator entscheidet, welche Worte die Bilder begleiten und erklären. Und am Schluss kommen auch Programmdirektor und/oder Chefredakteur, die bestimmen, ob und was zu welcher Zeit gesendet wird, bzw. in welchem Umfang und auf welcher Seite gedruckt wird.

Durch diesen Prozess der Berichterstattung wäre jederzeit auch die Gelegenheit zur „Manipulation der Massen“, was durchaus eine Ausübung von Macht darstellt. Und die Masse gibt es bedenkenlos weiter, ohne Verantwortung dafür zu übernehmen.

„Man ist für nichts verantwortlich, nicht fürs Urteil, nicht für den Augenzeugen, nicht für seinen Bericht und auch nicht für die Zeitung, die den Bericht gedruckt hat.“

Canetti, Elias: Masse und Macht. (S.51.):

Bei aller Kritik der Medien und der Berichterstattung dürfen wir nicht vergessen, dass die Medien eine der wichtigsten Rollen bei der Information der Menschen spielen. Wir in Deutschland haben das Glück, dass die Pressefreiheit im Grundgesetz (Art. 5 I) niedergelegt ist.  Der letzte Satz des 1. Absatzes von Artikel 5 lautet:

„Eine Zensur findet nicht statt.“

Das wäre der Idealzustand.

Auch bei dieser Rezension kann ich abschließend wieder erwähnen: Dürrenmatt ist heute aktueller denn je. „Der Auftrag – oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter“ halte ich für eines der lesenswertesten Werke Dürrenmatts, weil es nicht nur spannend ist, sondern auch unseren Umgang mit den Medien spiegelt, der sich im Laufe der Jahre immer mehr in die von Dürrenmatt kritisierte Richtung entwickelt hat.

Weitere Rezensionen

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Weiterführende Links

Diogenes Verlag

Interview mit Elisabeth Bronfen: „Dürrenmatt benutzt den Krimi, um die Schuld der Schweiz anzuprangern

Blog Friedrich Dürrenmatt Schreibblogg

                                                                                                                                                                                                                                      

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Connie Ruoff

Mein Name ist Connie Ruoff, ich bin 1960 geboren, habe Philosophie und Germanistik studiert. Damit mir zu Hause nicht langweilig wird, studiere ich"Bloggen professionell gemacht" in der Fernakademie. Ich lese alles, was ich finden kann.

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