„Justiz“ Friedrich Dürrenmatt Rezension

Spielen Sie Billard?

Was hat Billard mit Dürrenmatts Krimi „Justiz“ zu tun? Ist es überhaupt ein Krimi? Ein Roman, der erst an der Stelle richtig beginnt, an der ein üblicher Krimi aufhört?

A la bande. So muß man den Benno schlagen“, meinte der Kantonsrat, indem er den Billardstock Professor Winter zurückgab.
„Kapiert, junger Mann?“
„Ich verstehe nichts davon“ antwortete ich und wandte mich dem Grog zu, den der Kellner auf ein Tischchen gestellt hatte.
„Einmal werden Sie es schon begreifen“, lachte Dr. h.c. Isaak Kohler, nahm eine Zeitungsrolle von der Wand und entfernte sich.

Entstehungsgeschichte

Mit dem Niederschreiben seines vierten Kriminalromas hat Dürrenmatt wohl 1957 begonnen. Das Fragment beendete der Schriftsteller 1985 in seinem „zweiten Leben“ (Ulrich Weber: „Friedrich Dürrenmatt – Eine Biographie“; zur Rezension.

Dürrenmatt hatte sich von der ARCHE und Peter Schifferli getrennt und wechselte zu Daniel Keel und DIOGENES. Mehr

Als Daniel Keel anregte, „Justiz“ als Fragment zu veröffentlichen, beendete es Dürrenmatt 1985. Der Roman erschien als gekürzter Fortsetzungsroman im STERN, bevor er in Buchform veröffentlich wurde.

Zusammenfassung/Inhalt

Als Dr. h.c. Isaak Kohler den englischen Minister an den Flughafen brachte, unterbrach er die Fahrt am DU THÉATRE, wies seinen Fahrer an, eine Minute zu warten und begab sich durch die Drehtüre ins Restaurant. Das Lokal war voll besetzt. Der Kantonsrat schaute sich um und schritt zum Tisch Professor Winters. Dann zog er einen Revolver hervor und schoss Professor Winter nieder – „nicht ohne vorher freundlich gegrüßt zu haben“. Danach verlies er gelassen das Lokal, setzte sich wieder in seinen Rolls-Royce und fuhr mit dem immer noch schlafenden Minister zum Flughafen. (vgl. „Justiz“ S. 11).

Der Mord nimmt eine halbe Seite des Buches ein. Er ist eigentlich die Vorgeschichte zu dem wirklichen „Kriminalfall“. Der Kantonsrat wurde festgenommen. Das Motiv konnte nicht ermittelt und die Tatwaffe nicht gefunden werden. Kohler wurde zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt und zeigte sich als Mustergefangener.

Kurz nach seiner Inhaftierung bestellte Kohler den mittellosen jungen Anwalt Felix Spät zu sich und gab ihm den Auftrag, den Mordfall Winter neu zu untersuchen, und zwar unter der Annahme, dass nicht er, Dr h.c. Kohler, der Mörder sei, sondern ein Anderer. Obwohl Spät dabei nicht wohl war, nahm er schließlich den Auftrag aus Geldnot an.

Worum geht es?

„Die Gerechtigkeit wohnt in einer Etage, zu der die Justiz keinen Zugang hat“
Friedrich Dürrenmatt

Gerechtigkeit! Gerechtigkeit, die nicht erfolgt. Obwohl die Öffentlichkeit den Mord mit angesehen hat, werden die Zweifel an Kohlers Schuld immer größer. Durch seine Ermittlungen verhalf, der eigentlich für Gerechtigkeit kämpfende Anwalt Spät selbst, Kohler zum Freispruch. Das macht seinen Kampf absurd und unglaubhaft. Spät hatte übersehen, wie komplex Kohler seine Tat geplant hatte, und erkennt jetzt erst, dass er selbst als Werkzeug vorgesehen war.

„Der Dr. h. c. hatte mit offenen Karten gespielt, aber ich hatte sein Spiel nicht begriffen. Erst wenn sein Spiel ernst genommen wurde, kam das Motiv zum Vorschein: er hatte getötet, um zu beobachten, gemordet, um die Gesetze zu untersuchen, die der menschlichen Gesellschaft zugrunde liegen. Hätte er jedoch dieses Motiv vor Gericht zugegeben, wäre es als bloße Ausrede betrachtet worden. Das Motiv war zu abstrakt für die Justiz.“

Erst gegen Ende des Romans erfährt der Leser, was Kohler wirklich zu dem Mord motivierte.

Aufbau

Der Roman besteht aus drei Teilen. Die ersten beiden Teile werden aus der Perspektive Späts und in der Ichform geschrieben. Das Geschehen wechselt zwischen zwei Zeitebenen hin und her.

Der dritte Teil wird aus der Sicht des Herausgebers, der die Niederschrift des Anwalts findet und letztendlich das Rätsel entwirrt, geschildert. (Diesen Teil hat Friedrich Dürrenmatt 1985 in der Wiederbearbeitung des Stücks angefügt. Wohl auch weil er sich nicht mehr wirklich in das Stück hineinversetzen konnte.)

Felix Spät schreibt das Geschehen nieder. Er ist der Erzähler, aber ein unzuverlässiger Erzähler. Betrunken teilt er den Leser*Innen mit, warum er Kohler erschießen wollte und immer noch will.

Rahmenhandlung Dürrenmatt hat sich als Schriftsteller, wie schon in seinen anderen Kriminalromanen ins Buch geschrieben. Dieser findet das Manuskript und geht der Geschichte nach.

Was will uns Dürrenmatt damit sagen?

Dürrenmatt zeigt die Grenzen der Justiz, in diesem Fall geht es sogar so weit, dass sich die Justiz selbst ad absurdum führt.

Aber er verdeutlicht auch, wie schnell sich der Mensch täuschen lässt. Selbst wenn wir es gesehen haben. Wir haben die Information des uns übermittelten Bildes erfasst und interpretiert. Dennoch geraten wir schnell in Zweifel. Trauen wir unseren eigenen Augen nicht? Wie vertrauenswürdig ist unsere Erkenntniswahrnehmung? Ist sie wahr? Entspricht sie den Fakten.

Gerade in aktueller Zeit, in der Krieg in der Ukraine herrscht, erkennen wir die Macht der Bilder und wir sie uns beeinflussen. Sie können uns überzeugen, aber genauso schnell können sie uns auch durch widersprüchliche Angaben und den Common Sense wieder in eine andere Richtung treiben.

Die Welt ist komplex und kompliziert! Deswegen erreicht man laut Dürrenmatt seine Ziele nur, wenn man „A la bande“ spielt.

Fazit/Kritik

Publikum und Kritiker reagierten geteilt. Es ist vielen zu konstruiert. Verglichen mit den anderen drei Kriminalromanen, „Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“ und „Das Versprechen“, findet „Justiz auch beim Publikum weniger Anklang.

Vielleicht sollte man es nicht als Kriminalfilm betrachten, sondern eher als eine philosophische Fallstudie. Dürrenmatt selbst benennt es:

„Die Wirklichkeit als, eine zufällig eingetretene Variante des Möglichen“

Man gewinnt den Eindruck, Dürrenmatt zeigt immer wieder die Macht des Zufalls, seine Wirkweise und die Unmöglichkeit dem Zufall zu entgehen. Wir sind der Willkür des Zufalls ausgeliefert.

Film „Justiz“ v. Hans Werner Geissendörfer

1990 verfilmte Hans Werner Geissendörfer den Roman, mit Maximilian Schell, Thomas Heinze und Anna Thalbach.

Weiterführende Links

Diogenes Verlag

Justiz | Dieter Wunderlich: Buchtipps und mehr

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Connie Ruoff

Mein Name ist Connie Ruoff, ich bin 1960 geboren, habe Philosophie und Germanistik studiert. Damit mir zu Hause nicht langweilig wird, studiere ich"Bloggen professionell gemacht" in der Fernakademie. Ich lese alles, was ich finden kann.

4 Kommentare zu „„Justiz“ Friedrich Dürrenmatt Rezension“

  1. Benutzerbild von Sabiene

    Von diesem Roman habe ich noch nie etwas gehört und ich staune immer wieder, wie viele Werke Dürrematt verfasst hat.
    Eine philosophische Studie als Kriminalroman zu verpacken, dass gelingt aber auch nur dem Meister.

    LG
    Sabiene

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