“Der Winterkrieg in Tibet” von Friedrich Dürrenmatt ist Teil seines sogenannten Stoffe-Projekts, das in den 1980er Jahren veröffentlicht wurde. „Der Winterkrieg in Tibet“ ist eine der drei Binnenerzählungen des Bandes Nr. 28 der Werkausgabe, Labyrinth Stoffe I-III. Dazu gehören noch „Der Rebell“ und „Mondfinsternis“. Es gehört zu seinen späten Werken und ist besonders komplex in seiner Struktur und thematischen Tiefe. Der Text thematisiert auf allegorische Weise den Zustand der Menschheit nach einem verheerenden Dritten Weltkrieg, der weite Teile der Erde zerstört hat.
Entstehungsgeschichte „Der Winterkrieg in Tibet“
„Der Winterkrieg in Tibet“ hat eine 30-jährige Entstehungsgeschichte und ist eine späte Auseinandersetzung mit früheren Texten wie „Die Stadt“ (1947) und „Papiere eines Wärters“ (1951). In allen drei Texten steht die männliche Ich-Figur im Mittelpunkt. Es wird rückblickend erzählt. Die gewohnte Umgebung ist die Stadt, Philipp Burkard meint, die Stadt Bern sei mehr oder weniger zu erkennen. Es kommt zum Eintritt in die Verwaltung, bzw. den Eintritt ins Labyrinth, auch als Höhlensystem erkennbar.
Diese Werke stehen im Zusammenhang mit Dürrenmatts fortwährender Auseinandersetzung mit dem Erzählen und seiner Exploration von Machtstrukturen und politischen Themen.
„Die Stadt“ ist eine Erzählung, die sich um gescheiterte utopische Vorstellungen und die dunklen Seiten menschlicher Zivilisation dreht. Sie spiegelt Dürrenmatts Interesse an der Absurdität und Fragilität der menschlichen Existenz wider.
„Papiere eines Wärters“ thematisieren ebenfalls Macht und Kontrolle, indem sie in einem fiktiven Dokumentarstil strukturiert sind. Dieser Ansatz erlaubt es Dürrenmatt, tief in die psychologischen und gesellschaftlichen Implikationen der Verantwortung zu blicken.
„Der Winterkrieg in Tibet“ ist ein Text, der explizit die Absurditäten geopolitischer Konflikte untersucht und dabei die systemischen Irrationalitäten politischer Entscheidungsprozesse offenlegt.
Zusammen bilden diese Werke ein kohärentes thematisches Geflecht, das sich mit Fragen des Machtmissbrauchs, der Unsinnigkeit menschlicher Konflikte und der Komplexität sozialer Strukturen befasst. Dürrenmatts Fähigkeit, durch unterschiedliche literarische Formen zu navigieren, ermöglicht es ihm, tiefere Einsichten in die menschliche Natur und die politischen Systeme zu ermöglichen. Sie alle hinterfragen traditionelle Gesellschaftsnormen und laden den Leser ein, über die zugrunde liegenden Mechanismen nachzudenken, die unser Leben bestimmen.
Zusammenfassung / Inhalt „Der Winterkrieg in Tibet“
Ich bin Söldner und stolz darauf, es zu sein.
Labyrinth S. 89.
Die Handlung spielt in einer post-apokalyptischen Welt, in der die Regierungen in verstrahlten Bunkern überlebt haben, aber keine reale Macht mehr besitzen. Eine mysteriöse “Verwaltung” bietet den Überlebenden die Wahl, entweder als Bürger oder als Söldner zu leben. Die Hauptfigur lehnt jedoch diese Wahl ab und begibt sich auf eine Mission nach Tibet, um gegen den Feind zu kämpfen, wobei die Grenzen zwischen Freund und Feind zunehmend verwischen.
Dürrenmatt hat hier eine beängstigende Gegenwelt entworfen. Der Oberst ist eine groteske Gegenfigur zum autobiographischen Ich.
Das Werk setzt sich intensiv mit Themen wie Macht, Ohnmacht, Krieg und der Suche nach einem Sinn in einer zerstörten Welt auseinander. Dürrenmatt verwendet hier eine Art “Labyrinth”-Struktur, die sowohl die Handlung als auch die Erzählweise beeinflusst. Der “Winterkrieg in Tibet” ist keine traditionelle Erzählung, sondern eher eine philosophische Reflexion über den Zustand der Menschheit und die Möglichkeit, Ordnung in einem chaotischen Universum zu finden.
Man tötet und fickt um die Wette, Blut, Spermien, Gedärme, Fruchtwasser, Gekröse,
Embryos, Kotze, schreiende Neugeborene, Gehirne, Augen, Mutterkuchen schiessen in
Strömen die riesigen Gletscher hinab, versickern in den abgrundtiefen Spalten.Labyrinth S. 99.
„Der Winterkrieg in Tibet“ ist mit 74 Seiten die umfangreichste der drei Binnenerzählungen. Sie ist verwirrend und grausam. Der Text entspricht der Gleichniskomposition. Dürrenmatt weist darauf hin, dass ein Gleichnis nicht nur eine Lösung bieten darf, sondern es muss mehrdeutig interpretiert werden.
„Nicht eine Erklärung ist der Sinn eines Gleichnisses, sondern alles seine möglichen Erklärungen zusammen, wobei die Zahl dieser möglichen Erklärungen zunimmt, das Gleichnis wird immer mehrdeutiger.“
Labyrinth S. 84.
Welchen Bezug hat „Der Winterkrieg in Tibet“ zur heutigen Zeit?
- Absurdität der Eskalation: Ähnlich wie in Dürrenmatts Darstellung sind viele gegenwärtige Konflikte von einer Kette von Ereignissen geprägt, die oft jene eskalieren, ohne dass echte Lösungen oder Ziele erreicht werden. Diese Eskalationen erscheinen aus der Distanz oft sinnlos und werden von irrationalen Ängsten oder ideologischen Zwängen getrieben.
- Geopolitische Machtspiele: Im Stück dreht sich vieles um die Interessen und Machtspiele größerer Mächte, die über das Schicksal anderer Länder und Menschen entscheiden. Dies spiegelt die heutigen geopolitischen Spannungen wider, in denen Großmächte in Stellvertreterkonflikte verwickelt sind oder Einfluss auf kleinere Staaten ausüben, oft ohne Rücksicht auf die betroffenen Bevölkerungen.
- Humanitäres Leid: Dürrenmatts Fokus auf die menschlichen Konsequenzen von Kriegen ist zeitlos. Heute wie damals sind es oft die Zivilisten, die unter den Konsequenzen von Kriegsführungen leiden, sei es durch direkte Gewalt, Vertreibung oder wirtschaftliche Verwerfungen.
- Frage nach dem Sinn: Die sinnlose Zerstörung und der Mangel an vernünftigen Zielen in „Der Winterkrieg in Tibet“ regen dazu an, über die fundamentale Frage des „Warum?“ in Bezug auf Krieg nachzudenken. In einer Zeit, in der viele Kriege aus ethnischen, religiösen oder politischen Gründen geführt werden, bleibt diese Frage weiterhin zentral.
- Perspektive auf Frieden: Indem er die Absurdität des Krieges aufzeigt, lenkt Dürrenmatt den Blick auf die Notwendigkeit von Dialog und Kompromiss. In heutigen Kontexten ist die Erkenntnis, dass nachhaltiger Frieden nur durch das Verständnis der Gegensätze und das Überwinden von Vorurteilen erreicht werden kann, von fundamentaler Bedeutung.
Trumps Bemühungen um Frieden für den Gazastreifen ist ein gutes Beispiel dafür.
Fazit / Kritik „Winterkrieg in Tibet“
Dieser Text ist heute 2025 vielleicht aktueller denn je. In Europa herrscht Krieg. Im Nahen Osten herrscht Krieg. Wer ist Freund, wer ist Feind? Sind es Stellvertreterkriege? Siegt der Stärkere? Sogar die Vereinigten Staaten haben sich mit und durch Donald Trump verändert. Man kann sich auf nichts mehr verlassen. Dürrenmatts Weltbild passt gut zu der Realität, in der wir leben.
Literaturverzeichnis zu „Winterkrieg in Tibet“
Dürrenmatt, Friedrich: Werkausgabe in siebenunddreißig Bänden, Band 28, Labyrinth Stoffe I-III, 1998, Diogenes Verlag AG Zürich.
Burkard, Philipp: Dürrenmatts „Stoffe“. Zur literarischen Transformation der Erkenntnistheorien Kants und Vaihingers im Spätwerk. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 2004.
Friedrich Dürrenmatt – Das Stoffe-Projekt (Online-Version)
Weiterführende Linka
Aus den Papieren eines Wärters: Die Falle / Rezension
Schreibblogg: Projekt Friedrich Dürrenmatt


