Thomas Mann "Der Zauberberg" Rezension

Besitzt Thomas Manns „Der Zauberberg“ in der heutigen Zeit noch Relevanz? Dazu eine Rezension:

Als ich für die Rezension „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ von Norman Ohler wieder in die Welt von Thomas Manns „Der Zauberberg“ eintauchte, konnte mich dieser Klassiker der Weltliteratur nicht mehr so bezaubern, wie in meiner Jugend. Dieser Spur wollte ich nachgehen.

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Ursprung eines Meisterwerks: Die Entstehung von „Der Zauberberg“

Thomas Mann begann die Arbeit an „Der Zauberberg“ im Jahr 1912, als ein mehrwöchiger Besuch bei seiner kranken Ehefrau Katja in einem Davoser Sanatorium ihn nachhaltig beeindruckte. Der Erste Weltkrieg unterbrach seine Arbeit und beeinflusste das Werk thematisch stark. Veröffentlicht im Jahr 1924, spiegelt der Roman somit die gesellschaftlichen Umbrüche und die instabile politische Lage der Zwischenkriegszeit wider. Manns Interesse am Spannungsfeld zwischen Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit standen im Zentrum seines literarischen Schaffensprozesses.

2024 wurde „Der Zauberberg“ 100 Jahre alt. In diesem Zusammenhang sind drei Bücher erschienen:
„Der Zauberberg, die ganze Geschichte“ (Rezension) von Norman Ohler.
Zauberberge“ von Thomas Sparr (Hierzu gibt es einen interessanten und ausführlichen Artikel von Jörg Auberg auf Moleskin Blues.)
„Zauberberg 2“ von Heinz Struck.

Der Zauberberg, die ganze Geschichte von Norman Ohler (Rezension)

Der Schöpfer des Zauberberges: Ein Blick auf Thomas Mann

Thomas Mann (1875-1955) ist eine der zentralen Figuren der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Geboren in Lübeck, genoss er eine privilegierte Erziehung in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Seine schriftstellerische Laufbahn war geprägt von der tiefen Auseinandersetzung mit Themen wie Identität, Krankheit und gesellschaftlichem Wandel. Diese Themen ziehen sich durch seine Werke, die für ihre präzise Sprache und psychologische Tiefe bekannt sind.

Ein bedeutender Meilenstein in Manns Karriere war die Verleihung des Nobelpreises für Literatur im Jahr 1929. Die Schwedische Akademie würdigte damit „die großartige Darstellungsweise, insbesondere in seinem berühmten Roman ‚Buddenbrooks‘, der die allmähliche Verfallenheit einer Familie schildert“. Diese Ehrung unterstrich Manns Fähigkeit, universelle menschliche Themen und Wertschätzungen seiner Zeit in einer ausgefeilten und eindrucksvollen Prosa zu vermitteln. Auch „Der Zauberberg“ war zu dieser Zeit bereits bekannt und wird oft zusammen mit seinem anderen Werk „Buddenbrooks“ als beeindruckendes Beispiel seiner literarischen Schaffenskraft gesehen.

Manns Werke zeichnen sich durch eine feinsinnige Ironie und einen kritischen Blick auf die Werte der Gesellschaft aus.

Eine Zusammenfassung des Romans: Was passiert auf dem Zauberberg?

Hans Castorp, ein 24-jähriger Hamburger, reist nach Davos, um seinen kranken Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen. Geplant sind drei Wochen, doch die Zeit im Sanatorium Berghof verlängert sich auf unbestimmte Zeit. Der leitende Arzt, Hofrat Dr. Behrens, diagnostiziert bei Castorp Anämie, und dieser unterzieht sich der gleichen Kur wie Joachim. Castorp genießt die Spaziergänge und die Gespräche mit dem klugen italienischen Literaten Lodovico Settembrini. Fasziniert ist er von der schönen Clawdia Chauchat, einer russischen Patientin, zu der er keine direkte Verbindung aufbauen kann. Hier gibt es die Bleistiftszene, die in der Sekundärliteratur ausgiebig besprochen wird.

Eine der bekanntesten Szenen in Thomas Manns „Der Zauberberg“ ist die, in der Hans Castorp von Clawdia Chauchat einen Bleistift leiht. Diese Szene symbolisiert die subtile und komplexe Anziehung zwischen den beiden Charakteren und spielt eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Castorps Gefühlen für Clawdia.

Im Speisesaal des Sanatoriums beobachtet Hans Castorp wiederholt Clawdia Chauchat, eine junge, attraktive Russin, die für ihre Geräuschhaftigkeit und Unhöflichkeit bekannt ist – insbesondere das wiederholte Zuschlagen der Tür hinter sich. Eines Tages, während einer Mahlzeit, wagt Hans es, Clawdia um einen Bleistift zu bitten, was sie mit einer feinen Mischung aus Nonchalance und koketter Freundlichkeit honoriert. Sie übergibt den Bleistift, mit dem Hans eine tiefere emotionale Verbindung zu ihr herzustellen versucht, fast schon als ein ritueller Akt des körperlichen und seelischen Austauschs.

Der Bleistift wird zu einem symbolischen Gegenstand in der sich entwickelnden Beziehung der beiden, da er für Hans Castorp eine Art Talisman wird, der seine unerwiderten Gefühle und seine schwärmerische Sehnsucht nach Clawdia verkörpert. Diese scheinbar alltägliche Interaktion unterstreicht Hans’ romantische Fixierung und idealisierende Wahrnehmung von Clawdia und hebt die Themen von Begehren und Unerreichbarkeit hervor, die sich durch den gesamten Roman ziehen.

Der Vorfall ist nicht nur ein Schritt in Hans’ emotionalem Werdegang, sondern deutet auch auf seine Bereitschaft hin, sich auf die Ungewissheiten und Gefahren intensiver emotionaler Erfahrungen einzulassen. Die Szene ist prägnant geschrieben und bleibt dem Leser im Gedächtnis als Beispiel für Manns Fähigkeit, alltägliche Objekte und Gesten mit tiefer symbolischer Bedeutung aufzuladen.

Eine leichte Erkrankung sorgt dafür, dass Castorp in Davos bleibt. Er passt sich dem Leben im Sanatorium an und verliert den Kontakt zu seiner Familie. Seine Leidenschaft für Clawdia wächst, was in einer Liaison während des Fastnachtsballs gipfelt. Doch der Sanatoriumsalltag geht weiter, und Castorp bleibt gefangen zwischen der Bergwelt und der flüchtigen Nähe zu Clawdia. Joachim hingegen sehnt sich zunehmend nach seiner militärischen Karriere.

Hans Castorp und Joachim Ziemßen lernen im Dorf die beiden ungleichen Philosophen Leo Naphta und Lodovico Settembrini kennen. Während Naphta ein kommunistischer Jesuit ist, manifestiert sich Settembrini als Republikaner und Humanist. Beide führen intensive und kontroverse Debatten über Krieg, Religion und Staatsphilosophie, denen Hans und Joachim fasziniert beiwohnen. Joachim ist der Monotonie des Sanatoriumslebens überdrüssig und verlässt gegen Dr. Behrens‘ Rat Davos. Hans’ Onkel James Tienappel versucht vergeblich, seinen Neffen zurückzuholen, und reist schließlich unverrichteter Dinge ab.

Ein Skiausflug in einem heftigen Schneesturm bringt Hans Castorp fast zum Erfrieren. Diese Schneesturmszene in Thomas Manns „Der Zauberberg“ ist ebenso eine der zentralen und symbolträchtigsten Episoden des Romans. Sie nimmt eine wichtige Rolle in der Entwicklung von Hans Castorps Charakter ein und ist thematisch tief verwurzelt in den Überlegungen zu Leben, Tod und der menschlichen Existenz.

In dieser Szene unternimmt Hans Castorp einen Skiausflug allein in die verschneiten Berge rund um Davos. Er gerät in einen heftigen Schneesturm, der ihn desorientiert und seine körperlichen Grenzen auf die Probe stellt. Völlig erschöpft und dem Erfrieren nahe, findet er in der Wildnis eine Hütte, bei der er haltmacht, um Zuflucht und Erholung zu suchen.

Während dieser Rast trinkt Hans einen Schluck mitgebrachtem Portwein, der ihm sofort in den Kopf steigt und ihn in einen traumartigen Zustand versetzt. In dieser Trance erlebt er eine intensive, visionäre Einsicht: Er reflektiert über die polaren Gegensätze von Leben und Tod, die in seinen Erfahrungen in der Welt des Sanatoriums stets präsent waren. Er sieht sich konfrontiert mit der Vergänglichkeit des Lebens, dem unerbittlichen Fortschritt der Zeit und den großen moralischen Fragen, die ihn seit seiner Ankunft in Davos beschäftigen.

Ein Schlüsselaspekt dieser Vision ist Hans’ Entschluss, dass menschliche Belange wie Liebe und Güte die einzige Antwort auf die existentialistische Verunsicherung sind. Diese Einsicht schmilzt jedoch schnell dahin, sobald Hans aus seinem Traum erwacht. Mit dem Abklingen des Schneesturms kehren Hans’ vorherige Zweifel und die Orientierungslosigkeit seines Lebens schnell zurück, symbolisiert durch seine Rückkehr in die Normalität des Sanatoriumslebens.

Die Schneesturmszene fungiert als Katalysator für Hans Castorps persönliche Einsicht und Entwicklung und spiegelt die zentrale Thematik des Romans wider: den Konflikt zwischen rationaler Erkenntnis und emotionaler Intuition, zwischen Leben und Tod, und zwischen Isolation und menschlicher Verbundenheit. Sie bleibt als lebhaftes Sinnbild für die Suche des Protagonisten nach Sinn und Klarheit in einer chaotischen Welt.

In der Adventszeit kehrt Clawdia Chauchat nach Davos zurück, begleitet von Mynheer Peeperkorn, einem charismatischen holländischen Kaffeepflanzer. Peeperkorn fasziniert die Sanatoriumsgäste mit seiner eindrucksvollen Präsenz und Großzügigkeit, auch wenn seine Ausführungen oft unvollständig sind. Hans Castorp nutzt die Gelegenheit, um Clawdia zur Rede zu stellen und bekennt, dass er nur wegen ihr im Sanatorium geblieben ist. Peeperkorn, der über die Zuneigung zwischen Castorp und Clawdia informiert ist, zeigt sich verständnisvoll. Trotz seiner charismatischen Persona nimmt sich Peeperkorn das Leben, als seine körperlichen Kräfte schwinden.

Die Jahre in Davos haben Castorp entfremdet, der sich der Monotonie und Langeweile des Sanatoriums stellt. In dieser Zeit nimmt er an spiritistischen Sitzungen mit Elly, einem Medium, teil, die Joachim im Jenseits beschwören. Erschüttert von dieser Begegnung, meidet er fortan okkulte Aktivitäten.

Eine schlechte Stimmung herrscht im Sanatorium, ausgelöst durch den steigenden Druck des Krieges und die hitzigen Debatten zwischen Naphta und Settembrini. Ein Duell zwischen den beiden endet mit Naphtas Selbstmord. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, erwacht Castorp aus seiner Lethargie, verlässt das Sanatorium und nimmt am Krieg teil, dessen Ausgang für ihn ungewiss bleibt.

Zeitlose Relevanz: Warum „Der Zauberberg“ heute noch aktuell ist

Die universellen Themen des Romans bleiben aktuell: die Kompexität des menschlichen Lebens, der Umgang mit Krankheit und Tod sowie die Suche nach Identität und Sinn. „Der Zauberberg“ bot vor hundert Jahren einen Spiegel der Gesellschaft. Manche der heutigen Herausforderungen, wie die Pandemien, die politische Zerrissenheit und den Wandel der Werte haben wir heute auch. Dennoch kann ich mich nicht mit dem Roman identifizieren.

Ein Kind seiner Zeit: Warum „Der Zauberberg“ möglicherweise nicht mehr aktuell ist

Obwohl „Der Zauberberg“ viele universelle Themen behandelt, gibt es Aspekte des Romans, die möglicherweise als veraltet angesehen werden und ihn für heutige Leser weniger relevant machen. Einer der Hauptgründe ist die spezifische historische und kulturelle Verankerung des Werks in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Welt des Sanatoriums in Davos, mit ihrer abgeschiedenen Atmosphäre und den detaillierten Beschreibungen der gesundheitlichen und existentiellen Krisen, ist eng mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen des frühen 20. Jahrhunderts verbunden. Diese Kontexte sind für das moderne Publikum oft schwer nachvollziehbar, da sie weit von den heutigen Lebensrealitäten entfernt sind.

Auch der stilistische Aufbau des Romans könnte moderne Leserinnen und Leser abschrecken. Thomas Manns Schreibstil ist komplex, geprägt von langen Sätzen, detaillierten Beschreibungen und umfangreichen philosophischen und gesellschaftlichen Exkursen.

Diese Erzählweise war für mich fast schon ermüdend. Die Geduld, die es erfordert, sich durch die tiefgründigen Diskussionen und den langsamen Handlungsfortschritt zu arbeiten, empfand ich zeitweise als anstrengend.

Darüber hinaus behandelt „Der Zauberberg“ Themen wie Krankheit und Isolation in einer Form, die heutigen wissenschaftlichen, medizinischen und sozialen Standards vielleicht nicht mehr gerecht wird. Die Darstellung von Tuberkulose und die Art der Behandlung im Sanatorium wirken aus heutiger Sicht archaisch. In Zeiten moderner medizinischer Fortschritte und veränderter Sichtweisen auf Gesundheit und Krankheit könnte der Roman als eine Art historisches Dokument anstelle einer Reflexion aktueller Gesundheitsfragen missverstanden werden.

Die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen den Figuren, insbesondere zwischen Settembrini und Naphta, spiegeln die intellektuellen Kämpfe ihrer Zeit wider, ohne Lösungen oder klare moralische Standpunkte zu bieten, die für heutige globale oder gesellschaftliche Herausforderungen direkt anwendbar sind. Die Diskussionen über Humanismus, Kommunismus und Jesuitismus erscheinen in einem modernen Kontext oft überholt und sind stark durch die damaligen sozialen und politischen Spannungen geprägt.

Zusammengefasst bleibt „Der Zauberberg“ ein bedeutendes literarisches Werk, das jedoch aufgrund seiner tiefen Verankerung in einer anderen Zeit und seiner stilistischen Eigenheiten möglicherweise einigen heutigen Lesern fremd oder sogar irrelevant erscheinen könnte. Seine Relevanz hängt stark davon ab, wie Leser bereit sind, sich mit den tieferen philosophischen und gesellschaftlichen Fragen, die der Roman aufwirft, auseinanderzusetzen.

Ein kritisches Fazit: Die zwei Gesichter des Zauberbergs

Der Reiz des Romans „Der Zauberberg“ besteht sowohl in seiner zeitlosen Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur als auch in seinen Verankerungen in einer spezifischen historischen Epoche. Mir gelingt es nicht, das Werk in die heutige Zeit zu transportieren. Wer kann einfach so, auf den Verdacht einer Erkrankung hin, sich sieben Jahre aus seinem Alltag und seinen Verpflichtungen nehmen?

Während einige Leser die philosophische und thematische Tiefe als bereichernd empfinden, sehen andere das Risiko des Veraltens. Dennoch bleibt Manns Werk ein wichtiger literarischer Beitrag, der trotz oder gerade wegen seiner Komplexität ein besonderes Leseerlebnis bietet. Ob er uns heute noch etwas gibt, bleibt letztlich eine Frage persönlicher Interpretation und Rezeption.

Bibliografie „Der Zauberberg“ Thomas Mann

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4. Auflage Oktober 2004

Fischer Verlag
copyright S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1952
copyright by S. Fischer Verlag, Berlin 1924

Mein herzlicher Dank für das Rezensionsexemplar geht an Bookbot.

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