Buchrezension „Der Richter und sein Henker“ Friedrich Dürrenmatt
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Als Dürrenmatts Roman 1950 erscheint, sind Deutschland und die Schweiz schon wieder im Aufschwang. Vor allem die Schweiz, die keine elementaren Kriegsschäden hatte, wurde zu einem Boomland.
Die Welt ist durch den Ost/West-Konflikt geteilt. Dürrenmatt spricht von: Gastmanns Abendgesellschaft mit Vertretern „fremder“ Mächte.
Nicht nur in der frühen Prosa, sondern auch in „Der Richter und sein Henker“, findet man Bezüge zu Dürrenmatts Kritik an der fehlenden Auseinandersetzung mit der opportunistischen Haltung der Schweiz gegenüber dem NS-Regime.
Zu den biographischen Daten
Zu den biographischen Daten ab 1946
Dürrenmatts drei Kriminalromane „Der Richter und sein Henker“, „Der Verdacht“ und „Das Versprechen“ gehören schon seit Jahrzehnten zum Lektürekanon deutschsprachiger Schulen.
Biographische Daten „Der Richter und sein Henker“
Die im Roman angedeutete neue Wohnsituation im Haus der Schwiegermutter, hoch über dem See in einer Zeile von Weinbauernhäusern zwischen Rebbergen und dem von Kalkfelsen durchzogenen Jurawald, schien der jungen Familie in all ihren Nöten gut zu bekommen.
Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie
Dürrenmatt zog in das Haus seiner Schwiegermutter. Er liebte die Aussicht und die Landschaft am Bieler See. Er machte sich auch dort die Wohnung zu eigen, indem er die Wände bemalte. Gerade in diesem Roman, kann man es durch die ausgiebig schön geschilderte Landschaft erkennen.
Ulrich Weber nannte das entsprechende Kapitel in der Biographie, eine „Flucht in den Krimi“,
Dürrenmatt ist 1949 Berthold Brecht begegnet. Zu dieser Zeit entsteht auch die Komödie „Romulus der Große“ (Uraufführung am 25. April am Stadttheater Basel). Er schrieb an der Erzählung „Die Stadt“ (Rezension) und „Die Ehe des Herrn Mississippi“. Das Stück schaffte es damals nicht auf die Bühne.
Ein Jahr später nahm der zusammen mit Max Frisch am »Kongress für Kulturelle Freiheit« in Westberlin teil. Er besuchte den Philosophen Rudolf Kassner im Wallis.
„Der Richter und sein Henker“ erschien 1950/51 als Fortsetzungsroman in acht Folgen für die Zeitschrift „Der Schweizer Beobachter“. Der Roman erschien 1952 als Buch beim Verlag Arche Schifferli, dem er bis er 1979, bis er zum Diogenes Verlag wechselte, die Treue hielt. Das Schweizerische Literaturarchiv erwarb 2011 das Arche-Verlagsarchiv (1944–1982).
„Wie besteht der Künstler in einer Welt der Bildung, der Alphabeten? Eine Frage, die mich bedrückt, auf die ich noch keine Antwort weiss. Vielleicht am besten, indem er Kriminalromane schreibt, Kunst da tut, wo sie niemand vermutet. Die Literatur muss so leicht werden, dass sie auf der Waage der heutigen Literaturkritik nichts mehr wiegt: Nur so wird sie wieder gewichtig.“
Friedrich Dürrenmatt. Theaterprobleme.
Zusammenfassung/Inhalt „Der Richter und sein Henker“
Wir befinden uns am 3. November 1948 im Dorf Lamboing im französischen Teil der Schweiz. Um dem Inhalt Realitätscharakter zu verleihen, fügt sich Dürrenmatt als die Person des Schriftstellers, selbst als Zeuge in die Geschichte ein.
Worum geht es? Hauptsächlich um Gerechtigkeit. Aber gibt es diese überhaupt? Wie kann man allen gerecht werden, dass jeder zufrieden ist? Auch Dürrenmatt beantwortet diese Frage nicht. Was kann der Einzelne im großen Getriebe bewirken?
Der lineare Handlungsablauf
Der Inhalt ist schnell erzählt: Der Dorfpolizist Clenin findet den Berner Polizeileutnant Schmied tot auf. Der alte und kranke Kommissar Bärlach übernimmt den Fall und wählt Tschanz als Assistenten.
Als sich sein Vorgesetzter Dr. Lutz bei ihm beschwert, dass keine Ergebnisse vorliegen, entgegnet Bärlach, dass er schon einen Verdacht habe, aber noch nicht äußern könne. Bei der Tatortbegehung findet der Kommissar zufällig eine Kugel. Ja, der Zufall und Dürrenmatt!
Als Tschanz morgens den Raum betritt, erschrickt Bärlach weil dieser durch Kleidung und Hut Schmied ähnlich sieht.
Geschickt lenkt Bärlach den Verdacht auf Gastmann, bei dem Schmied mit „fremden Mächten“ zu Gast war. Als die beiden Kommissare dem Verdacht nachgehen, wird Bärlach von einem großen Hund angegriffen, den Tschanz erschießt.
Gastmanns Anwalt verhindert weitere Ermittlungen.
Und jetzt erzähle ich nur, wenn es für den Überblick wichtig ist von der Handlung, weil das wirklich toll inszeniert wird, und ich nur empfehlen kann, es selbst zu lesen.
Figuenkonstellation/Zusammenspiel der Charaktere „Der Richter und sein Henker“
Bärlach
Hans Bärlach ist ein runder Charakter, der nicht einfach vom Leser beurteilt werden kann. Der Leser hat immer das Gefühl, dass Bärlach etwas verschweigt.
Der Leser erfährt, Bärlach ist über sechzig, lebt in Bern, nachdem er in Konstantinopel und in Frankfurt, als Chef der Kriminalpolizei, Karriere gemacht hat.
„Der Grund seiner Heimreise war nicht so sehr seine Liebe zu Bern, das er oft sein goldenes Grab nannte, sondern eine Ohrfeige gewesen, die er einem hohen Beamten der damaligen neuen deutschen Regierung gegeben hatte. In Frankfurt wurde damals über diese Gewalttätigkeit viel gesprochen, und in Bern bewertete man sie, je nach dem Stand der europäischen Politik, zuerst als empörend, dann als verurteilenswert, aber doch noch begreiflich, und endlich sogar als die einzige für einen Schweizer mögliche Haltung; dies aber erst fünfundvierzig“
Auszug aus: Dürrenmatt, Friedrich. „Der Richter und sein Henker.“ WA 20 S.13.
Der Auszug zeigt, dass Bärlach keine Angst vor Autoritäten hat, selbst wenn er dabei seine Karriere aufs Spiel setzt. Und er hat Magenkrebs und leidet immer wieder unter starken Schmerzen.
Bärlach und Gastmann haben eine Vorgeschichte. Als Bärlach nach Haus kommt, wird er schon von Gastmann erwartet und der Leser erfährt, dass sich die beiden Männer schon vor über vierzig Jahren in Konstantinopel, als Polizist dienstlich tätig war. Bärlach schloss eine Wette mit Gastmann darüber ab, ob ein perfektes Verbrechen, also ein Verbrechen, ohne gefasst zu werden, möglich ist. Gastmann wollte es ihm beweisen, indem er in Bärlachs Gegenwart ein Verbrechen begehen werde, das dieser ihm niemals würde beweisen können.
Gastmann
Ein Nihilist, der keine höheren Werte anerkennt. Er macht wozu er Lust hat. Es kann etwas Gutes herauskommen oder es kann etwas Böses herauskommen. Das ist für ihn unerheblich. Gastmann ist Bärlach immer einen Schritt voraus.
Tschanz
Tschanz ist ein Mensch, der Karriere machen möchte. Er neidet Schmied sein kriminalistisches Gespür, seine Reputation, seine Stellung, seine Bildung und auch seine Freundin. Das kann man auch daran erkennen, dass er Schmieds Äußeres imitiert.
Eine kleine Analyse oder Kritik „Der Richter und sein Henker“
Aufbau und Struktur „Der Richter und sein Henker“
Der Hauptplot ist die Aufklärung des Mordes an Schmied. Die erzählte Zeit sind wenige Novembertage.
Die zweite Ebene ist die Wette zwischen Gastmann und Bärlach vor vierzig Jahren, die aber mit der Gegenwart verbunden ist.
Ort des Geschehens ist die Umgebung des Bieler Sees – Dürrenmatts Heimat.
Der Krimi „dauert“ 21 Kapitel und verläuft folgendermaßen:
- Der Fund der Leiche
- Der Detektiv nimmt sich der Sache an und
- die Suche nach dem Täter
Wie in fast jedem Kriminalroman werden Verhöre geführt, Alibis überprüft, auch falsche Spuren gelegt. Dürrenmatt gibt dem Leser erst gegen Ende die Informationen, die zur Lösung des Falls notwendig sind. Letztendlich überführt sich der Täter durch seine Motive. Die Beweise schlagen zu.
Dürrenmatt baut den Spannungsbogen mit Verzögerungen und unterschiedlichen Phasen auf und variiert diese.
Ein erster Spannungshöhepunkt ist der Angriff von Gastmans Hund, der von Tschanz erschossen wird.
Es gibt sogenannte Zwischenspiele, das Gespräch zwischen Schwendi und Lutz, oder bei der Beerdigung werden groteske und/oder satirische Elemente eingefügt.
In der zweiten Erzählphase trifft Gastmann, den der Leser bislang nur aus Gesprächen kennt, auf Bärlach. Der Leser erfährt im Rückblick von der Wette. Spätestens hier wird klar, dass es um mehr geht, als den Mörder Schmieds zu überführen.
Ich möchte aus Gründen der Spannung, den Text nicht weiter analysieren, wer Fragen hat, möge mir bitte einen Kommentar schreiben. AM besten: SELBST LESEN.
Wir können hier Motive aus der Frühen Prosa wiederfinden, die Wette, der Zufall, die Jagd und das Essen.
Auch seine kriminalistischen Methoden erscheinen teilweise merkwürdig. Er mag keine Toten und keine Polizeiprotokolle. Er ist ein Eigenbrötler. Am Ende der Geschichte erklärt sich sein Verhalten. Bärlach manipuliert nicht nur Tschanz, sondern auch den Leser.
Eine unzuverlässige Erzählerstimme? Nicht unbedingt, ein aufmerksamer Leser, erkennt die Hinweise.
Das Motiv „Jäger und Wild“ verändert sich zu „Richter und Henker“. Dürrenmatt spielt auch in den Kriminalgeschichten mit Motiven, die er schon in der Frühen Prosa, herausgestellt hat.
Von Ernst Barlach zu Kommissar Bärlach. Friedrich Dürrenmatt war mit dem Bildhauer und Dramatiker Ernst Barlach befreundet und fand dessen Drama „Die Sündflut“ sehr interessant.
Das Hörbuch spricht Hans Korte
Ich habe mir diese sehr schöne Ausgabe geholt, die drei Kriminalgeschichten erzählt.
Das Diogenes Hörbuch wird eindrucksvoll von Hans Korte gesprochen, dem man gerne zuhört. Die Stimme passt einfach. Zum einen gibt es die Fassung auf CD oder den Download bei Audible.
Fazit oder der Versuch einer Interpretation „Der Richter und sein Henker“
Bärlach ist ein aufrechter Charakter, der lieber seine Stellung und seinen Wolhstand aufs Spiel setzt, als sich zu verbiegen. Er raucht, ißt und trinkt gerne.
Früher gab es eine amerikanische Fernsehserie „Colombo“. Daran erinnert mich Bärlach ein wenig. Es gibt aber tatsächlich einen Vorgänger „Wachtmeister Studer“ von Friedrich Glauser. Allerdings verneinte Dürrenmatt den Zusammenhang und meinte, er habe sich von Fontanes „Stechlin“ inspierieren lassen.
Es gefällt mir gut, was Dürrenmatt in diesen Kriminalroman gepackt hat:
Der Einzelne gegen die Vielen: Aus der Philosophie Kierkegaards hat Dürrenmatt, das Motiv übernommen. In seinen Romanen finden wir immer einen Protagonisten, der mutig versucht die Welt wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Es sind Einzelne, die Gutes tun wollen und sich dabei selbst in Schuld verstricken.
Gerade an der Person Bärlach ist das deutlich zu sehen. Auf welche Seite der Skala Gut/Böse ordnet der Leser ihn ein? Der Leser gerät selbst in ein real-fiktives Dilemma: Juristisch gesehen ist vollkommen klar oder unklar? Man kann Bärlach keine Schuld nachweisen! Er hat den Kampf gewonnen und die Wette verloren!
In Gegensatz zu den üblichen Kriminalromanen, spielt wie fast immer bei Dürrenmatt, der Zufall eine große Rolle. Üblicherweise haben Krimis ein eher berechenbares Geschehen, nur so ist eine erfolgreiche Ermittlung möglich.
Ein wunderbares Buch, das sich sehr zu lesen lohnt.
Vor allem zeigt es, wie virtuos der Schriftsteller mit dem Leser spielt!
Mein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag, für die Bereitstellung dieser tollen Gesamtausgabe und für die Unterstützung der Blogs. Das hat keine Auswirkung auf die Bewertung. Ich bin schon seit dreißig Jahren ein eingefleischter Dürrenmatt Fan.
Pingback: Werkausgabe 21 Erzählungen | Rezension| SCHREIBBLOGG 2021
Pingback: Rezension Der Verdacht Dürrenmatt | SCHREIBBLOGG 2021
Pingback: Das Prosawerk - Friedrich Dürrenmatt | SCHREIBBLOGG 2021