Das Leben geht einfach weiter … – „Rote Kreuze

Das Buch „Rote Kreuze“ von Sascha Filipenko beginnt mit der Begegnung zweier Fremden, die zu Freunden werden. Beide haben mehr Leid erfahren, als für ein einzelnes Leben zu verkraften sein kann, und dennoch stehen beide hier, und beginnen sich zu öffnen und sich füreinander zu interessieren. Das macht die Tragik ihrer Leben nicht ungeschehen, aber es hilft beiden, sie zu ertragen.

„Das war’s, denke ich, Vorhang. Ein Leben ist zu Ende – und ein anderes Leben beginnt. Eine transzendente Null. Mit meinen dreißig Jahren bin ich nun ein Mensch mit entzweigerissenem Schicksal. Ich darf es noch einmal versuchen. Was ist dagegen schon einzuwenden. Selbstmord ist nicht mein Ding; außerdem habe ich jetzt eine Tochter.“

Alexander rubbelt das rote Kreuz an der Tür seiner neuen Wohnung ab. Die Nachbarin Tatjana Alexejewa gesteht ihm, dass sie das Kreuz gemalt hat, weil bei ihr Alzheimer diagnostiziert wurde, und sie damit nach Hause findet. Sie möchte ihm ihre Geschichte erzählen: 

„Eigentlich keine Geschichte, sondern eine Biographie der Angst. Ich möchte Ihnen erzählen, wie das Grauen einen Menschen unvermittelt packt und sein ganzes Leben verändert.“

Es ist das erste Buch, das ich von Sasha Filipenko lese und es hat mich mit voller Wucht getroffen.

Ich nahm sprachlos an den Gesprächen teil. Diese Sprachlosigkeit lag nicht an der Unmöglichkeit ins Geschehen einzugreifen. Nein, es hat mich überwältigt. Ich hörte, wurde manchmal zornig, manchmal traurig und mehr als einmal weinte ich. 

Sasha Filipenko schildert, wie es den Menschen in der UDSSR in der Zeit unter Josef Stalin ging. Tatjana Alexejewa hat sie durch- und überlebt. 

Nun hat man den Beginn einer Alzheimer Krankheit festgestellt. Und sie glaubt zu wissen, warum sie daran erkrank ist:

„Weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu.“ 

Sie hat nur noch einen Wunsch: sie möchte ihr ganzes Leben weitererzählen. Es muss Gehör finden

Alexander, kurz Sascha, ist gefangen in seinem eigenen, unglaublichen Schicksal. Hat es sich zum Guten gewendet? Es fällt ihm am Anfang schwer, sich der neugierigen übergriffigen Nachbarin zu öffnen.

Sasha Filipenko gelingt es, die Tragödien dieser zwei Menschenleben so zu erzählen, dass die Leser:innen langsam, immer nur so viel erfahrend, dass es gerade noch erträglich zu fühlen ist, auszubreiten.

Das Hörbuch „Rote Kreuze“

Das im Diogenes Verlag erschienene Hörbuch „Rote Kreuze“ ist 4 Stunden und 59 Minuten lang. Es wird von Robert Stadlober gesprochen.

Robert Stadlober gelingt es, sowohl den immer wieder aufblitzenden Sarkasmus des Widerstands von Tatjana Alexejewa in Szene zu setzen, aber genau so zieht er die Hörer:innen mit leisen einfühlsamen Tönen in seinen Bann. Obwohl es schmerzt, will man weiterhören.

Zum Autor Sasha Filipenko

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"Rote Kreuze"

Sasha Filipenko wurde 1984 in Minsk geboren. Er ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Die Romane werden von Ruth Altenhofer übersetzt.

Systemkritik ist die Botschaft seiner Bücher. Sicherlich ist das auch der Grund, warum er in seiner Heimat Belarus unerwünscht ist. Bis 2020 lebte er in Petersburg, dann verließ er mit seiner Familie Rußland und lebt jetzt in der Schweiz.


Fazit/Kritik  „Rote Kreuze“

Beim Lesen bzw. Hören des Buchs wurde mir wieder einmal bewusst, dass der Mensch das größte und gefährlichste Raubtier ist, dass es gibt. Mit Ironie untermauert Sasha Filipenko die Gespräche seiner Protagonisten. Er schreibt in einer Sprache, die gesprochen wird.

Das Buch ist mehr als aktuell. Putin verherrlicht Stalin, obwohl oder vielleicht gerade, weil ihm die Geschichte Russlands, und das Wirken Stalins genau bekannt ist. 

1932/33 verfolgte Josef Stalin das Ziel, den Freiheitswillen der Ukraine zu brechen und die sowjetische Herrschaft  zu festigen. Um zur Industriemacht zu werden, brauchte die Sowjetunion dafür Technologie aus dem Westen, und das einzige Zahlungsmittel, das zur Genüge verfügbar war, war Getreide. Mehr als ein Viertel davon produzierte die Ukraine. Dieses Getreide wurde der Ukraine weggenommen und dadurch wurde eine Hungersnot erzeug, der schätzungsweise drei bis sieben Millionen Menschen zum Opfer. Das ging unter dem Begriff Holodomor in die Geschichte ein.

Sasha Filipenko erzählt immer wieder in seinen Büchern vom 20. Jahrhundert in der Sowjetunion.

Es ist wichtig, sich mit dieser Geschichte auseinanderzusetzen, um das aktuelle politische Geschehen wirklich verstehen und einordnen zu können.

Heute beginne ich mit seinem neuen Buch „Der Kremulator“.

„Rote Kreuze“ Sasha Filipenko

Pressebild_rote-kreuzeDiogenes-Verlag_

Hardcover Leinen
288 Seiten
erschienen am 26. Februar 2020

978-3-257-07124-5

Weitere Links zum Buch

Diogenes Verlag

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Benutzerbild von Connie Ruoff

Connie Ruoff

Mein Name ist Connie Ruoff, ich bin 1960 geboren, habe Philosophie und Germanistik studiert. Damit mir zu Hause nicht langweilig wird, studiere ich"Bloggen professionell gemacht" in der Fernakademie. Ich lese alles, was ich finden kann.

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