„Der Geliebte der Mutter“ Urs Widmer (Rezension)

„Das Buch des Vaters“ Urs Widmer (Rezension)

Zu Urs Widmer 1938-2014 und „Der Geliebte der Mutter“ und „Buch des Vaters“

Ich habe mich sehr gefreut, dass Diogenes die zwei Bücher von Urs Widmer, „Der Geliebte der Mutter“ (2000) und „Das Buch des Vaters“ (2004) zusammen, als eine Sonderausgabe herausgab. Ich hatte bislang nur Ersteres über die Mutter gelesen und stellte fest, dass ich es jetzt erst wirklich gelesen habe, nachdem ich das Buch über den bislang schwarzen Fleck namens, Vater gelesen hatte.

Urs Widmer verführt den Leser dazu, anzunehmen, dass es sich um eine reale Autobiographie handelt, weil alles auf den Schweizer Dirigenten Paul Sacher hindeutet, anscheinend hatte Clara vor ihrer Ehe ein Verhältnis mit dem Basler Dirigenten.

Seine Autobiografie „Reise an den Rand des Universums“ hat Urs Widmer 2013 veröffentlicht. Sie handelt von den Jahren 1938-1968. „Mit dreißig begann sein Leben als Schriftsteller“.

Ich habe das Buch noch nicht gelesen und kann, deshalb auch keine Stellung dazu nehmen.

5/5 Punkten

Buchvorstellung „Der Geliebte der Mutter“

Es ist eine tragische und dennoch mit schönen Worten gemalte und in filigrane Gefühle eingearbeitete Geschichte, erzählt vom Sohn, der als Ich-Erzähler den Leser an seinen Erinnerungen teilhaben lässt. Eine Geschichte, die berührt und gleichzeitig ein Unverständnis gegenüber der Mutter und Edwin erzeugt.

Eigentlich wird der Vater nicht erwähnt. Er wird nicht verleugnet, sondern er ist überhaupt nicht vorhanden. Schon als ich das Buch vor einigen Jahren zum ersten Mal las, war ich verblüfft, ja geradezu verwirrt, wie ein Sohn so liebevoll und auch voller Bewunderung über eine Mutter schreiben konnte, deren Begehren zeitlebens in einer anderen Welt und vor allem bei einem Mann lag, der sie nicht einmal richtig wahrnahm. Die Liebe zu Edwin zerstört sie immer mehr. Sie geht mit ihrem kleinen Sohn spazieren, um die Villa von Edwin und seiner Frau zu beobachten. Sie hat kaum noch Kraft, sich am Leben festzuhalten. Letztendlich schließt sich ihr Schicksal mit den Tod Edwins, den Clara zum Anlass nimmt, auch ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Die Frage, wer der Vater des Sohnes ist, wird nicht direkt gestellt. Urs Widmer verleitet den Leser ein wenig zum Spekulieren.

Es skizziert aber auch die Musikgeschichte um Bartók, Strauss, Ravel und Strawinsky, die von Edwin (oder Paul Sacher) teilweise uraufgeführt wurden.

Ansonsten werden die politischen Ereignisse eher in einem Nebensatz abgehandelt: der Börsencrash 1929, Nationalsozialismus.

„Als die Alliierten den Rhein erreichten, füllte die Mutter die Hurden im Keller mit Boskop-Äpfeln.“

5/5 Punkten

Buchvorstellung „Das Buch des Vaters“

Karl wird mit zwölf Jahren zum Mann. Wie es die Tradition verlangte, lief der Zwölfjährige allein von der Stadt in das Dorf, aus dem seine Eltern stammten. Dort wird er öffentlich gewaschen, gebadet, neu eingekleidet und bekommt sein Buch, in dem er seine Erlebnisse, sein Leben niederschreiben soll, das einmal sein eigener Sohn bekommen soll. Jeder der in diesem Dorf zur Welt kam, hat dort seinen eigenen Sarg. In dieser Nacht macht er auch die ersten sexuellen Erfahrungen.

Karl liebt seine Clara abgöttisch und kann dennoch die Dämonen aus ihrem Leben nicht vertreiben. Er lebt in seiner eigenen kleinen Welt, über deren Tellerrand er kaum schaut. Er ist weder lebenstüchtig noch strebsam oder ehrgeizig. Literatur und Musik ist seine Welt. Er hat jahrelang keine Steuern bezahlt und verkauft, um die Steuerschulden schnell begleichen zu können, seine Plattensammlung für den Wert der Steuerschuld ausgerechnet an Edwin.

Wie steht eigentlich Clara zu Karl? Er darf sie lieben und er ist der offizielle Vater ihres Sohnes. Sie finanziert das tägliche Leben und nimmt seine Spinnereien hin. Und die körperliche Anziehungskraft ist wohl groß. Aber den Sog ihrer Sehnsucht kann er wohl dennoch nicht wirklich abstellen.

Elektroschocktherapie und Aufenthalte in psychiatrische Einrichtungen haben sie noch empfindsamer gemacht.

Als der Vater stirbt, wirft die Mutter sein Buch weg. Der Sohn kann es nicht mehr retten und beschliesst, die einzige Möglichkeit, um es doch noch lesen zu können. Er will es selbst, nochmals im Sinne seines Vaters niederschreiben.

Ist das endlich eine Möglichkeit für den Sohn ins Geschehen einzugreifen? Will er durch sein, bzw. das kollektive Gedächtnis seiner Familie, das Geschehen leicht verändern.

Sprachliche Gestaltung „Der Geliebte der Mutter“ und „Das Buch des Vaters“

»Er war ein Zauberer, der alles konnte und dem alles gelang. Eine einfache Erzählsituation, ein Satz, ein Wort wurde für ihn zum Sprungbrett in die unendlichen Welten der Phantasie.«
Martin Ebel / Tages-Anzeiger, Zürich

Beide Bücher sind aus des Sohnes Perspektive geschrieben und dennoch unterscheiden sie sich. Auf mich wirkte es, als ob der Sohn, der Erzähler, seiner Mutter gegenüber weitaus nachsichtiger und empathischer reagiert.

Der Autor hat in beiden Büchern auf eine Kapiteleinteilung verzichtet. Es war mit ungewohnt, ich lese immer gerne das Kapitel zu Ende, bevor ich pausiere. Ich diesem Fall musste ich nach Gefühl entscheiden.

Urs Widmer: Literaturclub Plus

http://www.diogenes.ch/presse/titel.html?detail=9e40a8f3-f256-4e31-a8fc-c679d5613916

5/5 Punkten

Cover und äußere Erscheinung „Der Geliebte der Mutter“ und „Das Buch des Vaters“

Ich liebe die Ausgaben von Diogenes in rotem festen Leineneinband mit blauen Lesebändchen. Hier ist dazu noch ein schöner weißer Schuber dabei, den auf der Rückseite eine Fotografie Urs Widmers (Michael Bauer – Süddeutsche Zeitung), den Buchrücken das übliche Diogenes Emblem und auf der Vorderseite ein Gemälde von Anna Keel, „Stillleben mit zwei grünen Nelken im Weinglas“, 1999, ziert. Ein Schmuckstück für jeden Bücherschrank.

5/5 Punkten

Das Nachwort von Roman Bucheli

Das Nachwort bringt es auf den Punkt:

„Nein, Urs Widmer hat nicht das Leben seiner Mutter und seines Vaters beschrieben. Er hat ihr Leben in Literatur verwandelt. Er schafft kein getreues Abbild einer Wirklichkeit, er bringt sie neu hervor, als poetische Erfindung.“

Fazit/Kritik „Der Geliebte der Mutter“ und „Das Buch des Vaters“

Man kann als Leser dieses Buch, über die Mutter und den Vater, nicht einfach zur Seite legen. Es ist ein Buch, das ein Füllhorn an Gefühlen, aus dem Leser holt, vor allem Mitgefühl für die ganze Familie. Eine Mutter, die selbstzerstörerisch einen egozentrischen Mann liebt, der ihre gesamte Energie aus ihr saugt und noch einiges Geld dazu, und dabei keinerlei Gefühl für sie hat. Sie ist für ihn nur Mittel zum Zweck.

Wie schrecklich musste es für ein Kind sein, in diesem Haushalt aufzuwachsen? Eine Mutter, die ständig auf einen Mann fixiert ist, der sie gar nicht wahrnimmt, obwohl sie ihm und seinem Orchester geholfen hat, erfolgreich und prominent zu werden.

Ein Vater, der nicht wirklich erkennt, wie es um Claras Psyche steht. Ein Vater, der seinen Wohlfühlbereich liebt und diesen auch nicht verlassen möchte. Ein Vater, der letztlich den Kampf um Clara nicht gewinnen konnte, weil er ihn nicht wahrnahm.

Ja und schließlich bleibt die Frage: Was ist wirklich autobiografisch, was ist künstlerische Freiheit oder gar Fiktion? Das spielt aber eigentlich keine Rolle.

Ich werde das Buch mit diesen beiden Romanen von Urs Widmer sicherlich nicht so schnell vergessen. Die Bücher wollen mit allen Sinnen gelesen und mit Empathie betrachtet werden. Das ist Leben. Es ist ein bewegendes Porträt einer Familie, geprägt von Claras Sehnsüchten, Ängsten und ihrer Art, damit umzugehen.

Mit bleibt nur noch zu sagen. Es ist ein Verlust, es nicht zu lesen. Es erinnert an die griechische Tragödie und die reinigende Katharsis des Zuschauers. Genauso fühlte ich mich nach der Lektüre.

@Diogenes Verlag: Vielen Dank für das schöne Rezensionsexemplar!

Ich vergebe insgesamt 5/5 Punkten.

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