Siri Hustvedt las
Endlich! Heute ist der 9. April 2019 – Siri Hustvedt liest, im Schauspiel Frankfurt, aus ihrem neuen Roman „Damals“, den ich gerade rezensiere. Ich habe mich seit Wochen darauf gefreut. Ich bin vor einigen Monaten auf die amerikanische Autorin, mit norwegischen Wurzeln, aufmerksam geworden. „Die Illusion der Gewissheit“ hat mich beeindruckt und vor allem neugierig gemacht. Das Buch ist eine aktuelle Betrachtung des Leib-Seele- bzw. Körper-Geist-Problems.
Das Schauspiel war ausverkauft. Der Abend war eine Veranstaltung des Literaturhauses Frankfurt, des hessischen Literaturforums im Mousonturm in Kooperation mit dem Schauspiel Frankfurt.
Siri Hustvedt wurde mit großen Applaus begrüßt. Gesprächspartner und Moderator war Alf Mentzer (bekannt aus hr2-kultur), der mit Leichtigkeit zwischen der englischen und der deutschen Sprache wechselte. Alf Mentzer und die charismatische Autorin verzauberten das Publikum.
Passagen aus ihrem neuen Roman „Damals“, welche dann von Ellen Schulz-Krandick auf Deutsch gelesen wurden.
Ich werde Teile meiner Rezensionen zu „Damals“ und „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ hier einstreuen, weil die Autorin, diesen Themen im Gespräch näher erläuterte und mir dadurch einiges klarer wurde.
„Memories of the Future“
„Damals“ hat im Original den Titel „Memories of the Future“ („Erinnerungen an die Zukunft“). Der Titel bereits, lässt erahnen, dass es sich bei diesem Buch nicht nur, wie in der Presse (Zeit online, Kulturradio), um einen „weiblichen Narzissmus“ handelt, sondern dass Siri Hustvedt das Konzept Zeit zusammen mit Erinnerungen, mit allen Facetten, aus kognitionswissenschaftlicher Basis betrachtet. Es geht nicht um die Ebene der Ereignisse, sondern eher, um die Spuren, die Ereignisse hinterlassen und aus welchen sich später die Erinnerungen verändern. Siri Hustvedt hat das Konzept Erinnerung analytisch klar dargestellt. Ich versuche es, mit meinen eigenen Worten zu umschreiben und wiederzugeben.
Im Gegensatz zu der mittelalterlichen Vorstellung, unsere Erinnerungen werden in einem Apothekerschrank verwahrt und wir müssen nur die Erinnerung aus der Schublade holen, ist das Erinnern ein komplexer Vorgang, dessen Ergebnis variabel ist.
Unsere Erinnerung wird, genau im Augenblick des Vorgangs des Erinnerns, mittels unserer Erfahrungen neu zusammengesetzt und damit auch bewertet. Dadurch ist Erinnerung nicht statisch, sondern dynamisch.
„Damals“ auf narzisstisches Erzählen zu reduzieren, wird dem Buch nicht gerecht. Das Buch will in erster Linie die Frage beantworten:
„Wer bin ich?“
Habe ich aus heutiger Sicht, mein zwanzigjähriges Ich verraten oder bin ich ihm treu geblieben? Wie sehe ich mein damaliges Ich aus heutiger Sicht.
Das Doppelgängermotiv
Siri Hustvedt hat das im Roman elegant durch das Doppelgänger Motiv gelöst. „Damals“ hat mehrere Protagonisten Minnesota, die junge Autorin, die auf der Suche nach ihrem ersten Romanhelden nach New York zieht. Dann S. H. die vierzig Jahre ältere Autorin, als Erzählerin. Auf die Frage des Moderators, ob S. H., die Initialen, für Siri Hustvedt stehen, lachte sie und meinte, es könnte ebenso für Sherlock Holmes oder Standard Hero stehen. Aber es gibt noch einen virtuellen Detektiv, der das Geschehen als übergeordnete Instanz betrachtet bzw. kommentiert.
Wer gerne Freud einbinden möchte, kann es vielleicht auf diese Weise machen. Das Es, das Ich und das Über-Ich. Minnesota, die junge Autorin, würde in diesem Konstrukt das Es einnehmen, S. H. das Ich, und der fiktive Detektiv das Über-Ich. Ich glaube, das funktioniert. Narzissmus hingegen bedeutet, unkritisch sich selbst wichtiger zu nehmen, als es die Außenwelt tut.
Das ist keineswegs mein Eindruck. Siri Hustvedt nimmt an sich selbst überhaupt nichts unkritisch, sondern reflektiert ihr Handeln und Sein im Spiegel der Zeit. Welchen Einfluss hatte mein jüngeres auf mein heutiges Ich.
Mit zwanzig Jahren, stehen Minnesota noch alle Möglichkeiten offen, während S. H. schon durch ihr bisheriges Leben, die bislang getroffenen Entscheidungen, die noch offenen Möglichkeiten schmälern. Es geht auch um den Gedanken: Was hätte sonst noch aus mir werden können. Dazu gehört auch, dass „Wahrheit“ in einem anderen Kontext gesehen werden muss.
Traumabewältigung
Wie gehe ich damit um, dass ich ein Trauma mit mir herumtrage, und jetzt erst bemerke, dass ich mich diesem Trauma bislang nicht stellen konnte. Welche Weichen hat dieser Schicksalsschlag in meinem Leben gestellt?
Rowohlt hat von Siri Hustvedt zeitgleich den Essayband „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ herausgegeben. „Die Illusion der Gewissheit“ wurde in Amerika als Teil dieses Essaybandes veröffentlicht. In diesen Essays untersucht die Autorin, den Vorgang der Kunstbetrachtung. Was passiert da? Auch hier versuche ich es, mit meinen Worten wiederzugeben:
Im Essay „Meine Louise Bourgeois“ schildert uns die Autorin, wie Kunst in der Begegnung mit dem Betrachter entsteht. Die Wahrnehmung der Kunst manifestiert sich im Betrachter. Dieser ist keineswegs nur passiver Empfänger, sondern macht Kunst, mittels eigener Vergangenheit, und den erlittenen positiven, aber auch negativen Schicksalsschlägen und der eigenen Befindlichkeit zum Zeitpunkt der Betrachtung, das Werk zur Kunst, ja zum Erlebnis. Die eigene Befindlichkeit ist der strukturierte Raum, wo dieses Erlebnis entsteht oder sich manifestiert. Gute Kunst ermuntert uns dazu, die Struktur aufzubrechen und neu zusammenzusetzen.
In Siri Hustvedts Leben hatte Kunst schon immer einen hohen Stellenwert. Die 22-jährige Minnesota folgte in New York den Spuren des Dadaismus. Dabei spielt Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven, deren Namen, wie sich bei der Lesung, vielmehr beim Gespräch in Frankfurt herausstellte, nicht nur mir völlig unbekannt war, Eine wichtige Rolle. Sie war eine deutsche Künstlerin des Dadaismus und das als Muse, Aktmodell, Malerin, Bildhauerin, Dichterin und Rezitatorin. Das berühmte Kunstwerk „The Fountain“ wird bis heute Marcel Duchamp zugeordnet, obwohl es Beweise gibt, dass die Baroness die Schöpferin des Werkes war.
Nein! Siri Hustvedt hat keine neue Erkenntnistheorie aufgestellt, sondern sie mit Leben gefüllt, indem sie das eigene Leben erkenntnistheoretisch betrachtet hat. Ja, das Buch ist sehr persönlich und sehr ehrlich. Ist es exhibitionistisch? Ja, über sich selbst zu schreiben, trägt immer den Stempel des Exhibitionismus.
Ich denke, beim Lesen eines Buches geschieht Ähnliches, wie bei der Betrachtung von Kunst. Bei mir ist es gelungen! Ich konnte meine Struktur aufbrechen und mich auf Siri Hustvedt und ihre Gedanken, die fast immer wissenschaftlichen Ursprungs sind, einlassen. Für mich sind Ihre Bücher, Arbeitsbücher und eine große Bereicherung. Ich lasse mich gerne darauf ein!
Vor allem imponiert mir, dass Siri Hustvedt auch politisch klar Stellung bezieht. Auf die Frage des Moderators, wie sie die Ära Trump empfindet, sagte sie:
„Es ist eine Erleichterung, weg von Zuhause zu sein!“
In „Damals“ hat sie eine Karikatur von Trump gezeichnet mit den Worten
„Can that Man be President?“
Auch heute, am 9. April 2019, hier im Schauspiel Frankfurt, sagt sie deutlich, was sie von ihm hält.
Standing Ovations für eine Künstlerin, die in den Staaten zurecht ein „Star“ ist. Ich danke dem Rowohlt Verlag, durch den ich auf die Autorin aufmerksam wurde. Heute darf ich sagen, ich bin ein großer Fan.
Aus diesem Grund ließ ich auch zwei Bücher, „Damals“ und „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“ signieren. Leider vergaß ich, „Die Illusion der Gewissheit“ mitzunehmen. Ein Grund die nächste Lesung der Autorin zu besuchen.
Wer noch mehr wissen möchte, in den nächsten Tagen findet ihr auf meinem Blog, die Rezension von „Damals“ und „Eine Frau schaut auf Männer, die auf Frauen schauen“. Hier geht es zur Rezension „Die Illusion der Gewissheit“.
Am Schluss noch etwas zum Schmunzeln: In Europa trägt der Roman das Cover oben – in Amerika das Cover unten.
They don’t like Pubic Hairs
Abschließend kann ich nur sagen:
„Der Abend war ein Highlight! Vielen Dank, Siri Hustvedt!“
Als Rollstuhlfahrerin möchte ich ein Lob und eine Empfehlung dafür aussprechen, wie gut der barrierefreie Zugang und auch die Rollstuhlplätze sind. Vielen Dank!
Das Schauspiel Frankfurt und seine Mitarbeiter haben diesen Abend durch kluge Planung und Vorbereitung zu einem schönen Abend werden lassen. Sogar die relativ lange Warteschlange für die Signierstunde kam schnell ans Ziel.
Weiterführende Links
Siri Hustvedt die Website der Autorin
Rowohlt „Manchmal ist Erinnerung ein Messer“
Siri Hustvedts Bücher bei Rowohlt
LESUNG VON SIRI HUSTVEDT: Damals in New York
VON MICHAEL HIERHOLZER in der FAZ
Rezension „Die Illusion der Gewissheit“ von Siri Hustvedt
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