Die letzten Stunden des großen Komponisten Gustav Mahler
Robert Seethaler zeigt in seinem neuesten Roman „Der letzte Satz“ wieder einmal, wie genau er einen Charakter zeichnen und mit Leben füllen kann. Das Buch ist 2020 für den Deutschen Buchpreis nominiert. Die Preisverleihung findet am 12. Oktober 2020 statt. Ich drücke schon mal die Daumen. (Spiegel Bestsellerliste Stand 10.09.20: die fünfte Woche auf Platz 1).
Zusammenfassung „Der letzte Satz“
„Nie hatte er mehr Macht als Dirigent und als Operndirektor. Er war mit der schönsten Frau Wiens verheiratet, alle liebten ihn, manche verehrten ihn, suchten seine Nähe, wollten ihn berühren, seine Hand drücken, ihn umarmen. Wo er musste, ließ er es zu. Wo er konnte, rannte er davon.“
„Der letzte Satz“, Robert Seethaler, S. 76.
Als Protagonisten bzw. als Helden, vielleicht sogar als tragischen Helden, lässt Robert Seethaler den fiktiven „Gustav Mahler“ oder im Buch einfach Mahler genannt, während der Überfahrt auf der Europa, seine letzten Stunden erleben. Der Autor wählt die personale Erzählweise um die inneren Konflikte Mahlers dazustellen und erweckt die Figur zum Leben. Er zeigt uns Ziele, Gefühle, Enttäuschungen, Freude und Momente des Glücks aus Mahlers fiktivem Leben.
Robert Seethaler zeichnet Mahler als Getriebenen und leidenschaftlichen Menschen, dem es schwer fällt, seine Liebe im Alltag zu zeigen. Sein Medium ist die Musik. Zwischenmenschliches jagt ihm eher Furcht ein. Diese Gefühle kann er nur bei den Kindern zulassen und zeigen. Seinen großen Gefühlen zu Alma steht er fast schon hilflos gegenüber. Es ist das Wissen, dass sie ihm „gehört“, dass er ihre Schönheit betrachten darf. Eine Partnerschaft strebt er nicht an. Den Menschen Alma kann er nicht verstehen. Das erinnert eher an Besitztum, als an eine Ehe. Mahler ist erschreckt über seine eigene Leidenschaft, seine Eifersucht.
„Dein Baumeister ist ein Idiot. Du bist die Geliebte eines Idioten.“
„Der letzte Satz“, Robert Seethaler. S. 88.
„Ich bin nicht seine Geliebte.“
„Was bist du dann?
„Ich bin das, was du sehen könntest, wenn du mich einmal wirklich ansehen würdest.“
Das tatsächliche Geschehen auf dem Ozeandampfer Europa, bildet den Rahmen für Rückblenden und fiktive Erinnerungen. Damit lässt er eine lebendige Biographie entstehen. Wir erleben den erfolgreichen Künstler in Mahlers Erinnerung und den sterbenskranken Menschen in der Rahmenhandlung. Sehr beeindruckend!
Was wissen wir über den historischen Gustav Mahler?
Ich wusste über Gustav Mahler nur, dass er ein Komponist und ein Dirigent Ende des 19. Jahrhunderts war. Seine Frau Alma Mahler war mir eher ein Begriff. Ich habe natürlich sofort die Chance genutzt und mich etwas schlauer gemacht. Ich lese auch aus diesem Grund sehr gerne Robert Seethaler, weil er dem Leser zutraut, dass er das Allgemeinwissen hat, oder es sich aneignet.
Der in Böhmen geborene Komponist war einer der bedeutendsten Komponisten der Spätromantik, und auch einer der berühmtesten Dirigenten seiner Zeit und ein bedeutender Reformer des Musiktheaters.
Gustav Mahler, war mit sechs Jahren zum ersten Mal verliebt und komponierte seiner ersten Liebe ein Lied. In den folgenden Jahren war er noch oft verliebt. Daraus sind einige seiner Lieder entstanden.
Sicherlich war der Komponist in dieser Weise auf der Suche nach der „blauen Blume“ der Romantik („Des Knaben Wunderhorn“). Hätte er im Mittelalter gelebt, wäre er vielleicht ein guter Minnesänger gewesen.
Der Sprachstil
Robert Seethaler schreibt eindringlich und auf den Punkt das Wichtige erfassend. Schon beim Trafikanten hat mich beeindruckt, dass er das Setting zusammen mit dem Leser entwirft. Er erwähnt einige Fakten zum Dritten Reich und lässt damit den Leser in die Atmosphäre eintauchen, ohne es tatsächlich zu beschreiben. Robert Seethaler beherrscht nicht das Schreiben, sondern vor allem, das auf den Text verzichten. Oder hier nennt er nur das Wort „Baumeister“ und entlarvt die faszinierende Frau Alma Mahler geb. Schindler. Nach Gustav Mahlers Tod heiratete sie zuerst Walter Gropius und später Franz Werfel. Schon als Fünfzehnjährige schlug sie Gustav Klimt in ihren Bann, der bei ihrem Stiefvater ein und aus ging. Männer beteten sie an.
Das Cover
So oder so ähnlich wird der historische Gustav Mahler genauso wie der fiktive Mahler an der Reling gestanden sein. Das Cover ist zurückhaltend und passend. Das gefällt mir gut.
Beim Hanser Verlag gibt es öfter mal die Möglichkeit, signierte Bücher zu kaufen. Einfach öfter mal auf der Verlagsseite schauen. Das kostet keinen Aufpreis.
Das Hörbuch „Der letzte Satz“ Robert Seethaler
Matthias Brandt liest „Der letzte Satz“. Der Sprecher bzw. Schauspieler ist der jüngste Sohn des ehemaligen Bundeskanzlers Willy Brandt und seiner Frau Rut. 2019 hat er mit „Blackbird“ seinen ersten Roman veröffentlicht. Drei Jahre zuvor schrieb er den Kurzgeschichtenband „Raumpatrouille“. Beide Bücher sind bei KiWi erschienen. Auch als Schauspieler und Sprecher machte er sich einen Namen.
Matthias Brandt spricht das Buch unaufgeregt und eindringlich. Das Kopfkino funktioniert. Seine Sprache und Modulation verstärken den Text.
Obwohl Matthias Brandt den Roman wirklich geradezu authentisch wiedergibt, finde ich es schade, dass Robert Seethaler den Text nicht selbst spricht. Er hat eine sehr schöne Stimme und ich finde es immer sehr aufschlussreich, wenn der Autor selbst liest.
Roof Music/Tacheles!, (Hörbuch) Hördauer 2 Stunden 45 Minuten
Das Hörbuch ist im Bookbeat Katalog enthalten.
Kritik „Der letzte Satz“ Robert Seethaler
Robert Seethaler zeichnet ein gelungenes Psychogramm des bemerkenswerten Komponisten Gustav Mahler. Er lässt den Leser mitkomponieren, indem er auf das Allgemeinwissen aufbaut. Das gefällt mir sehr gut. Ich hole mir fast immer noch das Hörbuch und höre viele Stellen, nachdem ich sie gelesen habe. Ich empfinde das immer als Zugewinn. Gerade bei diesem Autor funktioniert das Kopfkino zuverlässig gut.
Robert Seethaler versteht es, ein Leben aus einem Punkt heraus zu beobachten und zu reflektieren. Das sind Gedanken über Möglichkeiten, die nicht ergriffen wurden. Was wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte? Ich dachte zuerst, er wäre viel älter auf dieser Überfahrt gewesen, bis mich die Leserunde bei Lovelybooks darauf aufmerksam machte, dass er ja schon mit 51 Jahren gestorben sei. Es sind reife Gedanken, die man im Alter hat. Aber Mahler erahnt sein nahendes Ende und entsprechend hat er diese Gedanken früher, weil er sich dem Tode nahe fühlt.
Ich bin immer etwas zwiegespalten über Romane, die eine historische Biographie nachbilden. Aber Robert Seethaler hat sehr empathisch und sensibel die historischen Fakten mit Leben versehen. Für mich ist es gelungen!
Bibliographie
Pressestimmen (von der Verlagsseite übernommen)
„Es ist die große Kunst der Verdichtung, die Robert Seethaler wie kaum ein anderer Schriftsteller beherrscht und die diesen schmalen Roman zu einem wundervollen Meisterstück des Abschieds macht.“ Annemarie Stoltenberg, NDR, 04.08.20
„Seine Sprache ist besonders. …Mit schnörkellosen Sätzen schält Seethaler alles Beiwerk ab, bis der Kern offenliegt. Das, was vom Leben eben so übrig bleibt, wenn man mit Abstand draufguckt.“ Elisa von Hof, Spiegel Online, 31.07.20
„Gustav Mahlers existentielle Situation erfasst der schmale Roman mit der für Seethaler eigentümlichen Prägnanz, Kürze und Kunst der Verdichtung.“ Alexander Kosenina, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.08.20
„Robert Seethaler beschreibt das große Kunststück, das einem das Leben abverlangt: Man lebt nach vorn, die Gegenwart erscheint oft peinigend und die Zukunft düster. In der Rückschau aber begreift man überrascht, wieviele schöne Momente es doch auch hatte. Und man beginnt zu bedauern, sie nicht intensiver gelebt zu haben. Zu trauern über sich selbst.“ Christine Westermann und Andreas Wallentin, WDR5 Bücher, 11.07.20
Weitere Links
Robert Seethaler beim Hanser-Verlag