Auf der Suche nach dem 100%igen Mädchen
Von Connie Ruoff
„Zu der Zeit haben weder du noch ich einen Namen. Du bist sechzehn, ich siebzehn, die sommerliche Dämmerung, die lebhaften Fantasien im Gras am Flussufer – mehr gibt es nicht. Nach und nach beginnen über uns Sterne zu funkeln, aber auch sie sind namenlos. Nebeneinander sitzen wir im Gras am Ufer einer namenlosen Welt.“
Murakami, Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. S. 12.
Zusammenfassung/Inhalt „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
Pünktlich zu seinem 75. Geburtstag veröffentlichte Haruki Murakami „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“. Zwei Jugendliche, vielmehr zwei Seelenverwandte erschaffen zusammen durch Imagination eine Stadt. Danach verschwindet das Mädchen. Zurück bleibt der namenlose Ich-Erzähler, der seine große Liebe verloren hat und sein Leben lang nach dem „100%igen Mädchen“ sucht.
Im Nachwort erklärt uns Haruki Murakami Details zum vorliegenden Roman.
Der Autor hatte 1980 schon das Grundthema unter dem gleichen Titel in einer längeren Erzählung verarbeitet, die in der japanischen Zeitschrift Bungakukai erschien. Damals leitete er einen Jazzclub in Tokio. Durch diese Doppelbelastung befürchtete er, dem Stoff nicht gerecht geworden zu sein.
Das zweite Mal nahm Murakami 1985 diesen Stoff in „Hard Boiled Wonderland und Das Ende der Welt“ wieder auf. In diesem Roman ist eine gezeichnete Karte enthalten. Es lohnt sich, diese Karte mit der „Stadt und ihrer ungewissen Mauer“ zu vergleichen. Auch wenn sich die Örtlichkeiten sehr ähneln, ist die Geschichte eine Andere.
2020 nahm der Autor diesen Stoff erneut in Angriff. Es war das Jahr der Corona-Pandemie. Er brauchte fast 3 Jahre den Roman zu beenden.
Haruki Murakami beginnt das Buch aus der Perspektive der zweiten Person Singular: du. Ich fühlte mich dadurch persönlich angesprochen. Als ob ich einer privaten Unterhaltung unbemerkt lausche. Man wird Teil einer vertraulichen Atmosphäre, die immer wieder durch Wiederholungen hervorgerufen wird. Es wird fast zu einer Art Meditation.
Dass dieser eigene Stil von Marukami beim Leser ankommt, ist in der deutschen Sprache sicherlich auch der Verdienst von Ursula Gräfe. Die Übersetzerin hat in Frankfurt am Main Japanologie und Anglistik studiert. Für DuMont überträgt sie die Werke Haruki Murakamis ins Deutsche. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.
Protagonist – „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
Der namenlose Held ist bescheiden und lebt sein Leben, sich an den Kleinigkeiten orientierend. Ehrgeiz oder Karriere sind ihm fremd. Er durchschreitet seinen Alltag mit Ritualen. Er überwindet es nicht, seine Jugendliebe verloren zu haben und ordnet immer wieder weite Teile seines Lebens der Suche nach dem 100%igen Mädchen unter. Ein Motiv, dass wir bei Muraki mehrfach finden.
Diese Protagonisten meistern ihr Leben, indem sie „funktionieren“, keine große Ambitionen haben und mehr in der Vergangenheit als in der Zukunft leben. Manchmal wirkt es auf mich fast so, als ob diese Helden sich durch Befolgen ihrer Rituale, selbst bestrafen und gleichzeitig aber auch die Kraft geben, das alles durchstehen zu können. Genau durch dieses Sisyphus ähnelnde Verhalten werden sie zu Helden.
Haruki Murakamis geheimnisvolle Orte
„Die innerhalb der Mauer lebenden Menschen können nicht hinaus, und die außerhalb der Stadt lebenden Menschen können nicht hinein. Das ist das Grundprinzip. Wer die Stadt betritt, darf keinen Schatten haben, doch wer keinen Schatten hat, darf die Stadt nie mehr verlassen.“
Murakami, Haruki: Die Stadt und ihre ungewisse Mauer.
Es handelt sich um einen imaginären Raum, den der Protagonist betreten kann. Wie dieser den Raum betreten kann, zeigt Murakami subtil an. Aber in diesem Roman sind auch andere Personen in der Lage, diesen Raum zu betreten und darin zu leben.
Die anthropomorphe Mauer mit einem Torwächter wirkt auf der einen Seite nostalgisch aber auch sehr spartanisch, wie eine Ökokommune mit Ersatzprodukten. Echte Äpfel wachsen außerhalb der Stadt. Es gibt keine Musik. Nur einhörnige Tiere. Orte ohne Zeit, keine Emotionen. Es ist eine Stadt, die man nicht mit der Bezeichnung schön schmücken mag. Jeder, der die Stadt betritt, muss seinen Schatten abgeben. Es gibt nur eine ungefähre Zeit.
Es sind scheinbar Orte des Übergangs. Vor allem die Bibliothek ist eine Art Zwischenwelt zu einer anderen Dimension, ein Romantischer Ort, ein geheimnisvolle Brück mit erweiterten Bewusstseinszuständen.
In Tokio wurde an Murakamis Alma Mater eine Bibliothek errichtet, die sämtliche Werke des Autors in 50 Sprachen ausstellt .
Mit dem Ziel, Murakamis Werk den Lesern noch näher zu bringen, wurde das Waseda International House of Literature (The Haruki Murakami Library) im Oktober 2021 auf dem Gelände der Waseda University in Tokyo, seiner Alma Mater, eröffnet. Nachdem man den Eingang des Gebäudes in Form eines Bogens durchschreitet, steht man vor einem Treppenaufgang, an dessen beiden Seiten sich Bücherregale aneinanderreihen. Der Architekt des Gebäudes, KUMA Kengo, sieht Murakamis Werke als „einen Tunnel, der Realität und Irrealität miteinander verbindet“ und hat diesen Raum dementsprechend gestaltet. Damit vermittelt er den Besuchern das Gefühl, in Murakamis Welt einzutreten.
Botschaft von Japan (abgerufen 21.08.24).
Worum geht es?
Konflikte werden in Japan nicht direkt ausgetragen. Alles wird verklausuliert, in Metaphern versteckt. Gerade im magischen Realismus lässt sich die Gesellschaftskritik gut maskieren, aber dennoch erkennen.
Wie in den meisten großen Romanen, geht es um Liebe, Trauer und Tod. Gerade die erste Liebe mit ihren Erfahrungen prägt sich uns besonders ein. Die Trauer über den Verlust schmerzt und ist groß.
Auch der Tod spielt hier eine besondere Rolle. Ist er ein Übergang? Das bleibt, wie so manches Andere, der Interpretation des Lesers vorbehalten.
Und der vielleicht wichtigste Punkt ist Selbstfindung! Wer bin ich eigentlich? Habe ich die Kraft, Mauern zu überwinden?
Magischer Realismus
„Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ von Haruki Murakami lässt sich genau wie „Kafka am Strand“, „1q84“ und weitere Werke des Autors, dem Genre Magischer Realismus zuordnen.
Der von Haruki Murakami mehrfach zitierte argentinische Schriftsteller Jorge Luis Borges („Aleph“) war ein Wegbereiter des magischen Realismus. Borges hat zwar keinen Roman geschrieben, aber seine Erzählungen beinhalten Literatur, Philosophie, Geschichte und Mythologie. Sie verschieben die Grenzen der Realität.
Den magischen Realismus gibt es nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Kunst, der Fotografie und im Film. Es handelt sich dabei um ein Subgenre der Fantasy. Diese Strömung begann im frühen 20. Jahrhundert in Südamerika. Dabei wird die Realität mit phantastischen Momenten durchzogen. Dadurch erweitert sich der Interpretationsraum für den Leser und er gewinnt neue Perspektiven auf das Geschehen.
Der magische Realismus stellt die Verschmelzung von realer Wirklichkeit (greifbar, sichtbar, rational) und magischer Realität (Halluzinationen, Träume) dar. Er ist eine „dritte Realität“, eine Synthese aus den uns geläufigen Wirklichkeiten. Der Übergang zum Surrealismus ist fließend.
Wikipedia (abgerufen 20.08.24)
Berühmte Vertreter dieses Genres sind u. a. Mario Vargas Llosa, Gabriel Garcia Marquez, Carlos Ruiz Zafón, Franz Kafka und Haruki Murakami.
Das Hörbuch „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ wird von David Nathan gesprochen
AUSGABE | Hörbuch, Ungekürzt |
ISBN | 9783957133175 |
PREIS | 35,00 € (EUR) |
DAUER | 17 Stunden, 12 Minuten |
David Nathans sonore Stimme nimmt den Hörer mit und begleitet ihn durch Höhen und Tiefen. Der Sprecher nutzt die Atmosphäre des Geschehens und setzt sie mit seiner Stimme um.
Er ist u. a. die deutsche Synchronstimme von Johnny Depp und Christian Bale. Auch als Hörbuchsprecher ist er sehr gefragt. Er spricht nicht nur Romane von Haruki Murakami, sondern u. a. auch von David Foster Wallace und Stephen King.
Fazit/Kritik „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“
Ich bin nicht nur ein großer Fan des japanischen Schriftstellers, sondern auch des Sprechers David Nathan. Nicht nur Murakamis neuer Roman ist ein Füllhorn der Interpretationsmöglichkeiten. Dieses Merkmal trifft auch alle seine Romane zu. Er entführt mich in unbekannte Welten, die zwar fremd sind, aber dennoch hat man das Gefühl, sie zu kennen, sich mit dem Protagonisten identifizieren zu können.
Beim Lesen seiner Bücher, habe ich immer das Gefühl, es gibt mir etwas, das bleibt. Auf das ich lange zugreifen kann. Das ist natürlich sehr subjektiv
Immer wieder bringt der Autor Musik ins Geschehen und dennoch gibt es in „dieser Stadt“ hinter der Mauer keine Musik.
Auch das Motiv der Schatten, erinnert an den Leib-Seele-Dualismus. Aber auch in der Romantik findet man dieses Doppelgänger-Motiv. Welche Version ist das bzw. der oder die „Wahre Identität“?
Haruki Murakami hat mich mal wieder beeindruckt. Meine Leseempfehlung: Nehmt euch Zeit, „Die Stadt und ihre ungewisse Mauer“ zu erkunden. Es lohnt sich!
Quellen
Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Haruki Murakami. Dumont Verlag 2024.
Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Haruki Murakami. Hamburg Hörverlag
Zeit online https://www.zeit.de/2024/03/die-stadt-und-ihre-ungewisse-mauer-haruki-murakami-literaturnobelpreis-roman (abgerufen 11.08.2024)
rbb
Mit der Übersetzerin Ursula Gräfe in Haruki Murakamis Welten
Orte und Worte · 11.01.2024 · 44 Min. https://www.ardaudiothek.de/embed/episode/13057757/
Botschaft von Japan https://www.de.emb-japan.go.jp/NaJ/NaJ2303/post_two.html (abgerufen 21.08.24)