Man sieht nur mit dem Herzen gut –
Inhalt/Zusammenfassung „Kalman“
Ich wurde durch eine Online Leselounge des Diogenes Verlags auf das Buch aufmerksam. Vielleicht hätte ich ansonsten das Buch gar nicht wahrgenommen. In einer beschaulichen Leserunde wurde, zusammen mit dem sympathischen Schriftsteller Joachim B. Schmidt, über Kalmann und seine Sicht der Welt diskutiert. Die Veranstaltung fand auf der ZOOM Plattform statt, die ich zum erstem Mal, aber sicherlich nicht das letzte Mal nutzte. Es war eine Bereicherung. Vor allem musste man sich keine Sorgen wegen „Spoilern“ machen. Wir hatten das Buch ja alle schon gelesen.
Somit entwickelte sich eine intensive Besprechung, auch über das Ende des Romans. Ich hoffe, dass wir mit weiteren Online Veranstaltungen des Diogenes Verlags und seiner Schriftsteller rechnen dürfen. Es macht Freude, sich mit anderen über Bücher auszutauschen.
„Ich kann nicht schnell laufen und auch nicht Pingpong spielen und früher wusste ich nicht mal, was ein IQ ist. Großvater wusste es zwar, aber er sagte, das sei nichts als eine Zahl, um Menschen in Schwarz und Weiß einzuteilen, eine Messmethode wie Zeit oder Geld, eine Erfindung der Kapitalisten, dabei seien wir alle gleich, und dann verstand ich überhaupt nichts mehr, und Großvater erklärte mir, dass nur das Heute zähle, das Hier, das Jetzt, das Ich, hier mit ihm. Fertig. Das verstand ich.“ 1 Schnee, S. 11
„Kalman“ von Joachim B. Schmidt zeigt uns Islands Welt durch die Augen seines Protagonisten Kalman. Der Autor erzählt uns die Geschichte von Raufarhöfn, einem Ort auf der Halbinsel Melrakkaslette im Nordosten Islands. Raufarhöfn ist klein und hat ca. 180-190 Einwohner. Der kleine Hafenort hat ein Freiluftkunstwerk, „Arctic Henge“, das von Erlingur Thorodsson, der 1996 in den Ort zog, um das Hotel, ein ehemaliges Seemannsheim zu leiten. Der Ort der nur 17 Kilometer vom Polarkreis entfernt ist, war in den 50er Jahren durch seine Heringsfanggründe eine lukrative Gegend, bis in den 60er Jahren die Heringe ausblieben und die Landflucht begann.
Aber es ist nicht nur die Geschichte Raufarhöfns, die dieses Buch so lesenswert macht, sondern es ist vor allem die Perspektive, die Joachim B. Schmidt dem Leser anbietet. Kalmans Sicht ermöglicht dem Leser einen Blick auf komplexe Sachverhalte, die von allem schmückendem Beiwerk auf das Wichtigste reduziert werden und dennoch nichts an Brisanz verlieren. Gleichzeitig ist Kalman aber auch ein unzuverlässiger Erzähler, den der Leser nicht so genau einordnen kann. Er vergisst oder verdrängt auch mal Sachverhalte. Wenn man sich die Mühe macht und das Buch ein zweites Mal liest, erkennt man schnell, dass Kalman dem Leser viel mehr offenbart, als man es beim ersten Lesen wahrnimmt.
Kalman ist das, was man „lernbehindert“ nennt, oder in anderen Worten: Kalman ist auf der Stufe eines Kindes stehen geblieben. Alles was er weiß oder kann, hat er von seinem Großvater oder seinem besten Freund Noi erfahren. Aber man sollte ihn keineswegs unterschätzen.
Kalman hat seine eigene Moral, die er anhand der Äußerungen anderer Personen, denen er vertraut, entwickelt hat. Er hat eine genaue Vorstellung von „Gut und Böse“. Kalman ist gut integriert in Raufarhöfn. Böse Zungen würden sagen, er habe die Rolle des „Dorftrottel“ übernommen. Das wäre aber sehr oberflächlich betrachtet. Kalman hat von seinem Großvater gelernt, dass es für einen Jäger sehr wichtig ist, die Natur genau zu beobachten und Geduld zu haben. Mit
seiner einfachen Sichtweise, enttarnt er Vorurteile und Geschehnisse.
Ich möchte Kalman eher in die Rolle des „Narren“ der Tarotkarten einordnen. Der Leser lernt die Gedankengänge Kalmans kennen, die durchaus eine Klugheit beinhalten, die mich fasziniert. Seine gesprochene Sprache, seine Dialogfähigkeit weicht davon ab und findet sich nur vereinfacht oder gar nicht wieder. Deswegen wird er so verkannt. Aber aus genau diesem Grund, kann Kalman, in der Rolle des „Hofnarren“ Wahrheiten aussprechen oder diese vereinfachen, ohne dass es ihm krumm genommen wird. Nein er wird arrogant belächelt.
Nicht zu vergessen ist, dass es in diesem Buch auch zwei Tote gibt, deren Tod einige Rätsel aufgeben. Es ist eine Kriminalgeschichte der etwas anderen Art.
Fazit zu „Kalman“ Joachim B. Schmidt
Joachim B. Schmidt ist es gelungen, ein Buch über Land und Leute zu schreiben, das den Leser berührt und das eigene Wertesystem auf den Prüfstand stellt. Ist Kalman ein guter Mensch? Absolut ja! Hätte ich das über Kalman auch gesagt, wenn ich nur die Fakten präsentiert bekommen hätte? Vielleicht nicht!
Der Autor spricht aus einer Perspektive, die wir selten einnehmen. Wir verlieren uns in Details und versuchen psychologisch, wissenschaftlich oder literarisch die Sachverhalte zu interpretieren oder einzuordnen. Wir suchen nach weiteren Informationen, um etwas zu verstehen. Kalman macht eher das Gegenteil. Er versucht, die Prämisse des Ganzen zu finden.
Ich stand dieser Perspektive kritisch gegenüber. Aber Joachim B. Schmidt hat durch seine empathische und behutsame Darstellung einen beeindruckenden Protagonisten gezeichnet, der über Weisheit verfügt, die uns in der Komplexität der Welt verloren ging.
Das Buch ist gut recherchiert. Man erfährt einiges über Island und die Isländer, „Gammelhai“ und Fangquoten. Die Atmosphäre der Weite, Gletscher und des kalten Schnees wurde gut eingefangen.
Wir sollten vielleicht öfter die Perspektive eines Kindes einnehmen und mehr Emotionen zulassen.
Mein Dank geht an Susanne Bühler, Catherine Schlumberger, die weiteren Teilnehmer der Leselounge und den Diogenes Verlag für die gelungene Veranstaltung der Leselounge inklusive Leseexemplar und dem regen literarischen Austausch.
Für dieses Buch gibt es eine sehr große
Leseempfehlung
Joachim B. Schmidt
Der Schweizer Autor, 1981 in Graubünden geboren, ist außerdem Journalist und 2007 nach Island ausgewandert. Zur Zeit ist er in der Schweiz auf Lesereise und liest Mitte Oktober 2020 auch in Frankfurt aus „Kalman“. (Lesetermine)
Links
Rezension von Arndt Stroscher auf Astrolibrium
David Wonschewski
Pingback: Büchergilde Abobox 4 |Aktuelles | SCHREIBBLOGG 2021