Das Psychogramm eines brutalen Kriegsverbrechers

Zusammenfassung/Inhalt „Vergesst unsere Namen nicht“

Vergesst unsere Namen nicht“ von Simon Stranger ist nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch das Psychogramm eines brutalen Kriegsverbrechers. Es zeigt die Zeit von ca. 1920 bis heute und es spielt in Norwegen. Es ist vor allem die Geschichte der deutschen Besatzung in Trondheim während des Zweiten Weltkriegs.

Das Schlimmste an diesem Buch ist, dass es auf Fakten beruht und keine Fiktion ist. Es ist ein historischer Roman, der mit abscheulichen Fakten hinterlegt ist. Deswegen habe ich in der rechten Spalten historischen Fakten aus den genannten Wikipedia Artikeln beigefügt.

Simon Stranger und „Vergesst unsere Namen nicht!“

„Wir leben in einer Welt der verbalen Auseinandersetzungen. Lass diesen Roman lieber eine Aufforderung sein, nach vorn zu sehen. Lass ihn lieber eine Möglichkeit zur Versöhnung sein und für Vergebung“, …

Seite 320

Dieser Aufruf kam von Simon Strangers Frau Rikke, deren Mutter Grete als Kind im Bandenkloster gewohnt hat und das, obwohl Ihre Familie durch den Holocaust Opfer zu beklagen hatte. 

Das Buch ist für Simon Stranger eine sehr persönliche Angelegenheit. Es ist ein Teil seiner Geschichte oder genauer gesagt, es ist die Familiengeschichte seiner Frau.

Dieser Roman möchte nicht anklagen, er verwirklicht Rikke Strangers Aufforderung.

Historische Fakten zu „Vergesst unsere Namen nicht“

Norwegen unter deutscher Besatzung

Die Besetzung Norwegens durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg begann mit dem Unternehmen Weserübung am 9. April 1940 und endete am 8. Mai 1945, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht.

Aus deutscher Sicht wurde die Invasion als „Inschutznahme“ gegen britische Operationen in norwegischen Gewässern verteidigt. Der bisherige NSDAP-Gauleiter von Essen, Josef Terboven, wurde von Hitler unter Abkehr von einer an die völkerrechtlichen Regeln gebundenen Besatzungsherrschaft einer Militärverwaltung, zum Reichskommissar für Norwegen ernannt und sollte die „Norweger als Freunde gewinnen“.

Nach der Besetzung lebten im Lande rund 2100 jüdische Norweger und Flüchtlinge aus Mitteleuropa, deren Situation sich ab Sommer 1941 verschlechterte. In Nordnorwegen verhafteten die deutschen Besatzer alle jüdischen Männer, in anderen Landesteilen nur die staatenlosen Juden.

(Entnommen aus Wikipedia Artikel „Norwegen unter deutscher Besatzung“ 

Worum geht es in „Vergesst unsere Namen nicht“?

Simon Stranger erzählt das Schicksal der Familie Komissar. Familie Komissar steht als Juden auf der Seite der Verfolgten und gleichzeitig stellvertretend für alle Opfer.

Er erzählt auch die Geschichte Henry Oliver Rinnans. Ein Kriegsverbrecher, der als Kollaborateur, Spion, Folterer und Handlanger der Nazis auf Seiten der Täter steht, stellvertretend für alle Täter.

Es handelt sich zwar konkret um diese Familiengeschichte, aber Simon Stranger weist immer wieder darauf hin, dass seine Familie nur eine und der vielen Opferfamilien ist. Der Leser erfährt in diesem Zusammenhang auch einiges über die „Stolpersteine“, dem Kunstprojekt für Europa von Gunter Demnig.

Meine Gedanken zu Henry Oliver Rinnan

Rinnan wird zum Täter, ohne wirklich ein Nazi zu sein. Er war ein Psychopath, der im Nationalsozialismus, das System fand, in dem er seine Bedürfnisse befriedigen konnte, seine Rachegelüste ausleben konnte und das ihn anerkannte. Er war jemand! Er hatte es Allen gezeigt. Er hatte das Kommando!

Rinnan, nur 1.60 m groß, von den Anderen als Kind schon verspottet, wollte schon immer hoch hinaus. Empathie kannte er nicht. Der Autor erzählt eine Geschichte aus der Kindheit Rinnan, in der er großes Mitgefühl und hohe Sensibilität zeigte. Aber anscheinend hat ihm das Leben diese Seite abgewöhnt. Er wurde in der norwegischen Armee nicht angenommen. Und diese Erfahrung wiederholte sich. Jede Zurückweisung setzte bei ihm weitere kriminelle Energie frei. Schon früh zeigt sich, dass er über kein Unrechtsbewusstsein verfügt. Ich würde das schon als einen Napoleon-Komplex bezeichnen. Er versuchte durch scheinbare Erfolge, seine Körpergröße zu kompensieren.

„S – wie der Spruch der Rinnan zugeschrieben wird und den er zu neuen Gefangenen gesagt haben soll, wenn sie ins Bandenkloster kamen: Willkommen am einzigen Ort in Trondheim, an dem die Wahrheit gesagt wird.“, …

Seite 301

Historische Fakten zu Henry Oliver Rinnan

Henry Oliver Rinnan (14. Mai 1915 – 1. Februar 1947) war ein berüchtigter norwegischer Gestapo- Agent während des Zweiten Weltkriegs (1940 – 1945). Er leitete eine Gruppe namens Sonderabteilung Lola. Diese Gruppe, unter Norwegern als Rinnanbanden bekannt, hatte 50 bekannte Mitglieder.

Ab September 1943 hatten die Rinnanbanden ihren Sitz in Trondheim, bekannt als Bandeklosteret . Rinnan arbeitete eng mit der deutschen Sicherheitspolizei in Trondheim zusammen. Während des Krieges wurde Rinnan zum SS – Untersturmführer der Reserve ernannt und erhielt 1944 das Eiserne Kreuz der 2. Klasse.

Rinnan wurde wegen persönlicher Ermordung von dreizehn Personen verurteilt, aber die tatsächliche Zahl könnte höher sein, hingerichtet. Er wurde eingeäschert und später inoffiziell auf dem Levanger-Friedhof in einem nicht gekennzeichneten Grab beigesetzt.

Vierzig Prozent der Menschen, die nach dem Zweiten Weltkrieg wegen norwegischer Kriegsverbrechen hingerichtet wurden, waren mit der Sonderabteilung Lola verbunden.

(Entnommen Norwegischer ins Deutsche übersetzte Wikipedia Artikel zu Henry Oliver Rinnan)

Sprachstil „Vergesst unsere Namen nicht!“

Simon Stranger erzählt in vier Zeitebenen und Handlungssträngen.:

1. Handlungsstrang: Hirsch Komissar (während der Besatzung). Im Buch die 1. Generation der Familie Komissar.

2. Handlungsstrang: Gerson Komissar und seine Familie (nach der Besatzung) 2. Generation.

3. Handlungsstrang: In der Gegenwart – der Autor erzählt von seiner Familie und der Entstehungsgeschichte von „Vergesst unsere Namen nicht“. 3., 4. und 5. Generation der Familie.

4. Handlungsstrang: Henry Oliver Rinnen – vor und während der Besatzung.

Der Autor schildert das Geschehen ohne Affektheischerei. Es sind Vorkommnisse, die man beim Lesen kaum ertragen kann. Das Wissen, dass es sich dabei um keine Horrorfiktion handelt, sondern um unsere deutsche Geschichte, ist der eigentliche Horror.

Besonders gut hat mir die Kapitelbezeichnung und Aufteilung gefallen. Simon Stranger hat das Alphabet mit Bespielen als Nummerierung genommen. Ich zitiere:

„A wie Anklage
A wie Aussage
A wie Arrest“

Ich fand das sehr aussagekräftig. Er fand für jeden einzelnen Buchstaben des Alphabets, passende Schlagwörter. Es ist keine bequeme Lektüre. Es ist Literatur gegen das Vergessen.

Das Hörbuch „Vergesst unsere Namen nicht!“

Die ungekürzte Hörbuchfassung wird exklusiv von Audible und ausschließlich als Download präsentiert. Das Hörbuch hat eine Länge von 10 Stunden und 9 Minuten und ist ebenfalls am 30.08.2019 erschienen.

Uwe Teschner liest das Buch sensibel und zurückhaltend. Mir hat die Stimme und das Sprachverhalten sehr gut gefallen.

Meine abschließenden Gedanken zu „Vergesst unsere Namen nicht“

Das Buch wurde mir über die Blogger-News von Bastei Lübbe, der Eichborn Verlag gehört zu Bastei Lübbe, angeboten. Obwohl mein Stapel ungelesener Bücher schon sehr hoch ist und ich zudem Rezensionen für September und Oktober zugesagt hatte, konnte ich, wegen folgender Zeilen aus dem Klappentext, nicht widerstehen, die ich gerne rezitieren möchte:

„In der jüdischen Tradition heißt es, dass ein Mensch zwei Mal stirbt. Das erste Mal, wenn das Herz aufhört zu schlagen und die Synapsen im Gehirn erlöschen wie das Licht in einer Stadt, in der der Strom ausfällt. Das zweite Mal, wenn der Name des Toten zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird, fünfzig oder hundert oder vierhundert Jahre später. Erst dann ist der Betroffene wirklich verschwunden, aus dem irdischen Leben gestrichen.“

Seite 6 und Klappentext

Ich finde das einen sehr schönen Gedanken des Talmuds, der auch einer der Entstehungsgründe der „Stolpersteine“ ist. Ich wollte mit der Veröffentlichung meiner Rezension einen kleinen Beitrag dazu leisten, deswegen habe ich dieses Rezensionsexemplar angefragt.

Ja! Ich schäme mich, dass wir Deutschen diese Gräueltaten begingen und zugelassen haben. Ich schäme mich, dass wir weggeschaut haben. Und trotz des Wissens über diese abscheulichen Verbrechen des Nationalsozialismus, ruckt Europa nach rechts und die Rechten marschieren wieder. Sie marschieren zwar nicht generell, aber immer wieder. In einigen Bundesländern konnte die AfD 25 % erreichen. Wie ist so etwas möglich? Hat uns die Zeit so desensibilisiert und alles vergessen lassen? Haben wir gar nichts aus unserer Geschichte gelernt?

Einige meiner Leser wissen, dass ich eine große Anhängerin Hannah Arendts bin. Eine großartige Philosophin, die selbst Jüdin, aber noch  rechtzeitig mit ihrem zweiten Mann, Heinrich Blücher, ins Exil in die USA flüchten konnte. Walter Benjamin hat sich 1942, aus Angst vor den Verfolgern, in Paris das Leben genommen.

Ich benenne hier Hannah Arendt, weil Simon Strangers Frau Rikke,  den Aufruf zur Versöhnung einbrachte. Auch Hannah Arendt wollte Versöhnung und keineswegs Rache oder Vergeltung.

Davor habe ich große Achtung. Ich bezweifle, dass ich diese Größe hätte.

Schade, dass die Politik Benjamin Netanjahus, keine Toleranz gegenüber  der anderen Seite hat und eine Siedlungspolitik verfolgt, die keine Rücksicht auf die Palästinenser nimmt. Man kann nur hoffen, dass die nach der Wahl beabsichtigte „Großen Koalition“ unter Benny Gantz und ohne Netanjahu kommt. Aber selbst dann, gibt es noch genügend Hardliner, die auf der Regierungsbank sitzen.

Simon Stranger ist dem Aufruf seiner Frau gefolgt. Er schrieb ein Buch, das nicht wertet, sondern berichtet und erzählt. Er versucht, Gründe zu finden, wie ein Mensch zu einem der größten Kriegsverbrecher Norwegens wurde. Die Geschichte ist nicht schwarz/weiß, sondern hat viele Grautöne. Der Leser selbst darf das Geschehen werten

5/5
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5 Sterne GEGEN DAS VERGESSEN

Im empfehle dieses Buch. Es sollte auf den Lehrplan für die Oberstufe.

@Eichborn Verlag: Herzlichen Dank für die Bereitstellung des Rezensionsexemplars


Schreibblogg.de

Links zum Buch

Stolpersteine

Simon Stranger erhält den Norwegischen Buchhändlerpreis

Website des Autors

Der Eichborn Verlag auf Bastei Lübbe

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Connie Ruoff

Mein Name ist Connie Ruoff, ich bin 1960 geboren, habe Philosophie und Germanistik studiert. Damit mir zu Hause nicht langweilig wird, studiere ich"Bloggen professionell gemacht" in der Fernakademie. Ich lese alles, was ich finden kann.

1 Kommentar zu „„Vergesst unsere Namen nicht“ Simon Stranger (Rezension)“

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