Buchvorstellung „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries

Von Walter Benjamin bis zu Jürgen Habermas

„Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, dass Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen?“ „Grand Hotel Abgrund.“ S. 9.

Mit diesem Zitat von Theodor Wiesengrund Adorno lässt Stuart Jeffries sein Buch „Grand Hotel Abgrund. Die Frankfurter Schule und ihre Zeit“ beginnen.

Der Titel „Grand Hotel Abgrund“

Die führenden Köpfe des Frankfurter Instituts, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Friedrich Pollock, Franz Neumann und Jürgen Habermas waren Theoretiker, die in erster Linie den Faschismus kritisierten, aber nicht der „elften These  über Feuerbach“ von Karl Marx folgten.

„Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Ebenda, S. 9.

Der Titel stammt ursprünglich von Georg Lukács, der den Mitgliedern der Frankfurter Schule vorwarf, dass diese in einem schönen Hotel, das „mit allem Komfort ausgestattet“ – am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Absurdität, dem „Grand Hotel Abgrund“ residierten, dessen früherer Bewohner schon Arthur Schopenhauer war.

1969 kamen die Anführer der Studentenbewegung Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit. Sie wollten die kritische Theorie in die Praxis überführen. Der daraus abgeleitete Aufruf überstieg bei weitem die Grenzen zivilen Ungehorsams. Es war ein gewaltsam-autoritärer Aufruf zum Handeln – befreiende Aktionen. Jürgen Habermas wählte dafür die Bezeichnung „linker Faschismus“. Später zog er den Ausdruck zurück.

Lediglich Herbert Marcuse sympathisierte mit politisch militanten Aktionen und nahm in San Diego selbst an entsprechenden Aktivitäten teil.

Stewart Jeffries wagt die Vermutung, dass Walter Benjamin, der als Impulsgeber der Frankfurter Schule gilt, wenn er sich nicht in Paris 1940 das Leben genommen, sondern die Studentenbewegung noch erlebt hätte, auf Seiten, der auf die Barrikaden steigenden Studenten gewesen wäre.

Inhalt „Grand Hotel Abgrund“

Stuart Jeffries erzählt die Gründungsgeschichte des Frankfurter „Instituts für Sozialforschung“, der Menschen dahinter und die Geschichte des Gebäudes. Die Protagonisten sind Walter Benjamin, Theodor Wiesengrund Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Erich Fromm, Jürgen Habermas. Gleichzeitig lässt er den Leser an deren Leben teilhaben. Walter Benjamin, seine Flucht nach Paris und sein Tod aus verzweifelnder Angst sind genauso Teil der Geschichte, wie das Leben und Wirken der Philosophen im Exil der USA. Habermas und Horkheimer kehrten Anfang der 1950er Jahre wieder nach Deutschland zurück, während Fromm und Marcuse in den USA blieben. 

Der Aufbau „Grand Hotel Abgrund“

Stuart Jeffries „Grand Hotel Abgrund“ hat sieben Teile, die zeitlich bis auf den ersten Teil 1900-1920, in Dekaden angeordnet sind.

Der Autor benennt chronologisch die Ziele der Frankfurter Schule, die Grenzen des Positivismus, des Dialektischen Materialismus und der Phänomenologie, mithilfe der kritischen Philosophie Kants, Hegels Dialektik und Marxscher Schriften zu überwinden.

Die Entstehungsgeschichte „Grand Hotel Abgrund“

Der erste Forschungsschwerpunkt war die Untersuchung sozialer Phänomene. „Studien über Autorität und Familie“ und „Die autoritäre Persönlichkeit“.

Der zweite Forschungsschwerpunkt war die Auseinandersetzung mit dem Wesen des Marxismus selbst. Daraus folgte das Konzept der kritischen Theorie, die Jürgen Habermas in den 1960er Jahren auf eine neue Stufe stellte.

Die Frankfurter Schule erstellt eine kritische Gesellschaftsanalyse, die den Zusammenhang zwischen subjektiver Vernunft und kapitalistischer Gesellschaftsordnung beleuchtet.

Die wichtigste Frage überhaupt war wohl, warum das Denken der Aufklärung, in die Barbarei des Nationalsozialismus umschlagen konnte.

Das Institut arbeitete interdisziplinär mit Psychoanalyse (Erich Fromm), Philosophie (Max Horkheimer, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno), Kulturtheorie (Walter Benjamin) und Soziologie (Leo Löwenthal) in Frankfurt und während der NS-Zeit im amerikanischen Exil an einer umfassenden Gesellschaftskritik.

Die Dialektik der Aufklärung

Das Hauptwerk „Die Dialektik der Aufklärung“ entstand in den 1940er-Jahren im Exil. Die Aufklärung endete in neuer Unterwerfung und Abhängigkeit, das wird auf die Vorherrschaft eines Vernunftideals zurückgeführt, dessen Ziel vollständige technische Naturbeherrschung, auch der menschlichen Natur (Bedürfnisse, Leidenschaften) war, das den Menschen überrollte. Adorno und Horkheimer zeigen ihre Theorien anhand Homers „Odyssee“.

Die Kritische Theorie „Grand Hotel Abgrund“

In der kritischen Theorie fließen die Denkrichtungen von Karl Marx – Kritik der politischen Ökonomie und der Psychoanalyse von Sigmund Freud zusammen, weshalb sie auch als Freudo-Marxismus bezeichnet wird. 

Die religionsphilosophische These: Gott ist eine falsche Hypothese, Theologie ist sinnlos. Für Horkheimer und Habermas steht fest, dass Gott durch Geschichte, moderne Naturwissenschaften (Evolutionismus, Darwinismus und dogmatischen Marxismus widerlegt. Das Christentum sei eine Lüge.

Die Epoche des metaphysischen Denkens ist vergangen. Gott ist in der kritischen Theorie nur ein Phantasieprodukt der Menschen. Die „Moderne“ als Epoche des Massen-Atheismus. „Gott ist tot.“ Die Wiederbelebung des Nietschezianischen Atheismus.

Schon Jean Paul Sartre, Albert Camus und der christliche Schriftsteller Fjodor Dostojewski thematisieren die daraus folgenden Probleme, wie dass der absolute Bezugspunkt, die höchste Instanz fehlt, in ihren Schriften Gottes Tod. Warum sollen wir gut sein? Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt.

Ideologie ist eine der Grundlagen sozialer Strukturen.

Grand Hotel Abgrund Stuart Jeffries

Kritik „Grand Hotel Abgrund“

„Doch sind die Texte aus dem Kreis der Frankfurter Schule nutzbringend auch für uns, die wir gegenwärtig  in einer anderen Art von Dunkel leben. Wir leben nicht in einer Hölle, die von den Denkern der Frankfurter Schule geschaffen wurde – vielmehr in einer Hölle, die sie uns helfen kann zu verstehen. Es ist also ein guter Zeitpunkt, ihre Flaschenpost zu öffnen.“
Ebenda. S. 21.

Mit diesen Worten endet das Vorwort und beginnt meine Kritik. Es könnte keinen besseren Zeitpunkt geben, die Flaschenpost zu öffnen. Unsere politische Lage ist schwierig und wir sollten uns wieder auf unsere Vernunft und unsere Werte besinnen und nicht vergessen, dass die Freiheit unser höchstes Gut ist.

Stuart Jeffries „Grand Hotel Abgrund“ liest sich genauso spannend wie ein Roman. Er stellt die Fakten dar und lässt seine Protagonisten Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse und Erich Fromm zum Leben erwachen und ihre Thesen erläutern.

Ich hatte mich mit Georg Wilhelm Friedrich Hegels Aufklärungsbegriff aus der „Phänomenologie des Geistes. Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben“ beschäftigt. Aber während Hegel das Problem dialektisch auflöst, erklärt Adorno in „Die Dialektik der Aufklärung“, dieselbe für gescheitert. 

Kann man das Projekt „Aufklärung“ überhaupt jemals als beendet betrachten oder sollten wir den Weg zur „Aufklärung“ besser als einen Habitus ansehen, den wir jeden Tag einüben müssen? Gerade in unserer Zeit

Dieser Artikel ist lediglich eine laienhafte Darstellung der Frankfurter Schule und ihrer Philosophie. Zugrunde gelegt war „Grand Hotel Abgrund“ von Stuart Jeffries. Nicht berücksichtigt wurde Jürgen Habermas Richtungswechsel zur Sprachphilosophie, die negative Kritik und „Die Befreiung der Sexualität“ und weitere. Auch diese Themen werden in vorliegendem Buch beleuchtet.

„Grand Hotel Abgrund“ gefällt mir sehr. Das liegt mit daran, dass ich vor einigen Monaten „Zeit der Zauberer“ von Wolfram Eilenberger gelesen und rezensiert habe, das die Zeit der 1920er-Jahre und Walter Benjamin, Martin Heidegger, Ludwig Wittgenstein und Ernst Cassirer beleuchtet. Sozusagen war „Grand Hotel Abgrund“ nur ein Schritt weiter im philosophischen Weltgeschehen.

Vielleicht konnte ich im Sinne der Aufklärung – engl. Enlightment, ein wenig Licht ins Thema bringen und zum kritischen Lesen und Denken ermuntern.

„Sapere Aude! – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“ 
Immanuel Kant.

Dieses Buch ist ein kleines Mosaikstück auf dem Weg der Aufklärung, das ich wärmstens empfehle.


Grand Hotel Abgrund Stuart Jeffries

Aus dem Englischen von Susanne Held (Orig.: Grand Hotel Abyss. The Lives of the Frankfurt School)
3. Druckaufl. 2019, 509 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-608-96431-8

Weitere Rezensionen

Literatur – SWR2 lesenswert Podcast

Glanz und Elend

Zeit Online

Süddeutsche Zeitung

Der Autor bei Klett Cotta

Bibliografie


Rezension „Zeit der Zauberer“ von Wolfram Eilenberger

Büchergilde

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Benutzerbild von Connie Ruoff

Connie Ruoff

Mein Name ist Connie Ruoff, ich bin 1960 geboren, habe Philosophie und Germanistik studiert. Damit mir zu Hause nicht langweilig wird, studiere ich"Bloggen professionell gemacht" in der Fernakademie. Ich lese alles, was ich finden kann.

2 Kommentare zu „„Grand Hotel Abgrund“ Stuart Jeffries (Rezension)“

  1. Benutzerbild von Jan Möbius

    Hallo Connie,

    ich habe eben deine Rezension zu „Grande Hotel Abgrund“ gelesen. Ich kenne das Buch nur in Auszügen und bin fasziniert von dem, was du über das Buch schreibst. Nun bin ich am überlegen, wie ich am besten an das Buch komme. Hast du einen Tipp für mich oder zufällig ein altes Exemplar bei dir rumliegen, dass ich dir abkaufen könnte? Ich freue mich über eine Antwort von dir.

    Liebe Grüße aus Freiburg,
    Jan Möbius

    1. Benutzerbild von Connie Ruoff

      Lieber Jan,
      Vielen Dank für deinen Kommentar. Es freut mich, dass ich dein Interesse vertiefen konnte. Wenn du ein gebrauchtes Exemplar suchst, ich habe gerade bei Booklooker geschaut. Da bekommst du es ab 8€. Ich verkaufe selten eher nie meine Bücher. Wir haben zwar keinen Platz mehr in der Wohnung, aber wir lieben Bücher.
      Herzliche Grüße aus Wiesbaden

      Connie

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