Eine satirische Novelle als Werk der Fiktion

Der britische Schriftsteller Ian McEwan hat sich nun, ein halbes Jahr nach „Maschinen wie ich“, mit „Die Kakerlake“ eine Antwort auf den Brexit-Ausstieg einfallen lassen.

In Form einer dystopischen Novelle bediente er sich bei Franz Kafka  und schrieb die „Verwandlung“, diese Metamorphose neu.

Während Kafka die Geschichte in drei Kapiteln geschehen lässt, nimmt sich McEwan vier Kapitel lang Zeit.

Schon die ersten Worte zeigen die Richtung an.

„Diese Novelle ist ein Werk der Fiktion; Namen und Figuren entspringen der Phantasie des Autors, und jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Kakerlaken wäre rein zufällig.“ 
Die Kakerlake, Seite 7.

Aber erinnern wir uns zuerst nochmal an die „Metamorphose“ von Kafka. 

Gregor Samsa wacht eines morgens auf und stellt fest, dass er sich in einen Käfer verwandelt hat. Seine Familie zieht sich immer weiter von ihm zurück. Nur seine Schwester Grete kümmert sich noch um ihn. Aber auch Grete wendet sich von ihm ab und Gregor stirbt einsam und wird wie Müll entsorgt.

Zurück zu „Die Kakerlake“

„Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.“ (Franz Kafka)



Genau wie Gregor Samsa setzt sich Jim Sams im ersten Kapitel damit auseinander, dass er in anderer Gestalt erwacht. Während Gregor ein Mensch war und zum Käfer wurde, ist Jim eine Kakerlake, die als Mensch aufwacht.

„Und er fand heraus, dass es bequemer war, die Zunge im trieffeuchten Mundkerker zu verwahren, statt sie einfach über die Lippen hängen zu lassen, so dass es hin und wieder auf seine Brust tropfte. Grässlich. Allmählich bekam er ein Gefühl dafür, wie sich seine neue Gestalt steuern ließ.“ (Ian McEwan S. 14)

Der geneigte Leser hat natürlich sofort die Namensähnlichkeit zwischen Gregor Samsa und Jim Sams entdeckt. Der britische Premier wird sozusagen von einer Kakerlake unterwandert. Aber schnell erfährt der Leser, dass ganz Groß-Britannien von Kakerlaken regiert wird. Es könnte sogar sein, dass Amerikas Präsident der gleichen Spezies angehört.

Ian McEwan ändert das Wirtschaftssystem in den „Reversalismus“. Ein Gedankenspiel, das „Schrödingers Katze“ vor Neid erblassen lässt.

Wie sehe mein Alltag im System des Reversalismus aus? „Die Kakerlake“

Ich gehe zuerst in den Bioladen und „kaufe“ mir Lebensmittel und was ich noch so benötige ein. An der Kasse bezahlt mich die Verkäuferin für meine Waren.

Dann gehe ich zur Arbeit und gebe meinem Chef erst einmal Geld dafür, dass ich arbeiten darf. Und wenn ich kein Geld für Arbeit ausgeben möchte? Ja, dann fangen die Probleme an, weil ich kein Geld sparen oder sammeln darf. Das ist bei Strafe verboten.

Jeden Monat bezahlt mir mein Vermieter die „Miete“. Damit der Vermieter genügend Geld verdient, um meine Miete zu bezahlen, kann er z. B. die Wohnung hochwertig einrichten und renovieren, denn dafür erhält er von den Handwerkern Geld, wenn er sie beauftragt.

Den Rest dürft ihr euch zusammenreimen und den Wirtschaftskreislauf darstellen, ich habe jetzt Kopfweh!

Kritik „Die Kakerlake“, eine böse Satire, Blödsinn oder Beleidigung?

Das muss der Leser selbst entscheiden, wie viel künstlerische Freiheit und moralisches Fingerspitzengefühl er dem Autor zugesteht. Ich finde es sprachlich gut gelungen.

Jim Sams der fiktive britische Premier bricht Verträge. Ein Politiker bricht Verträge oder Vereinbarungen? Fiktion oder trauriges Zeitgeschehen?

McEwan zeigt uns ein fiktives Groß-Britannien, das in zwei Lager gespalten ist. Die Brexit-Gegner und -Anhänger. Bei McEwan haben die Brexit Gegner, die Vor-Dreher, keine Stimmen mehr. Und wir, das Volk, lassen uns von den Reversalisten einlullen. 

Auch hier frage ich, „Ein Land, das in zwei Lager gespalten ist?“, ist das Phantasie oder ein Abbild der Wirklichkeit?

Letztendlich gibt es nur einen Gewinner: die Kakerlaken. Ohne Moral, Skrupel oder Rechtsempfinden haben sie erkannt:

„In schwierigen Zeiten wie diesen brauchte das Volk einen verlässlichen Feind.“ 

„Die Kakerlake“ ist ein McEwan, den der Leser noch nicht kennt. Aber ich finde das Buch lesenswert, amüsant und böse. Man muss nicht lange darüber nachdenken, ob McEwan ein Brexit-Gegner ist.

Ich finde es sehr mutig, Kafkas „Verwandlung“ als Bühne zu benutzen. Der Autor hat Kafkas Stil faszinierend umgesetzt. Respekt! Der Text ist wirklich kafkaesk.

Die Novelle ist hoch aktuell und es macht ein wenig betroffen, dass manche „Kakerlake“ uns bekannt vorkommt, bzw. dass es Menschen gibt, deren Verhalten unmoralisch, böse, hetzerisch und kriminell ist. Erinnern wir uns daran, dass wir in einer Demokratie die Wahl haben!

@Diogenes Verlag

Herzlichen Dank für die Bereitstellung dieses erbaulichen Rezensionsexemplars.


Die Kakerlake Ian McEwan
Die Kakerlake von Ian McEwan
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Hardcover Leinen
144 Seiten
erschienen am 27. November 2019

Das Hörbuch wird von Burghart Klaußner gelesen

Burghart Klaußner hat in Berlin Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und eine Schauspielausbildung an der Max-Reinhard-Schule absolviert. Ende März 2019 war er in der ARD im zweiteiligen Dokudrama „Brecht“ von Heinrich Breloer zu sehen. Viele kennen ihn vielleicht aus Filmen wie „Rossini“, „Good Bye Lenin“ und „Das weiße Band“, oder aus Serien wie „Solo für Schwarz“ und „Adelheid und ihre Mörder“. Und er spielte die Titelrolle in „Der Staat gegen Fritz Bauer“, wofür er mehrfach ausgezeichnet wurde.

Burghard Klaußner spielt Theater. „Kaufmann von Venedig“. Auch mit folgenden Stücken „Der Gott des Gemetzels“, „Das weite Land“, „Iphigenie“ und „Don Carlos“ stand er schon auf der Bühne.

Am 8.8.2019 liest er auf den Salzburger Festspielen „Ulyssys“.

Burghart Klaußner singt. Im Repertoire hat er Lieder von Charles Trenet, Cole Porter, Tom Waits, den Stones, Karl Valentin und Johnny Cash.

Burghard Klaußner hat einige Hörbücher gesprochen: „Warte nicht auf bessere Zeiten“ von Wolf Biermann, „Solar“ von Ian McEwan, „F“ von Daniel Kehlmann, „Stoner“ von John Williams, mehrere Bücher von Ferdinand von Schirach und natürlich von Paul Auster.

Also du siehst, Burghart Klaußner ist ein sehr begabter und vielseitiger Künstler. Ich empfehle einen Besuch seiner Website. Besonders das Video „Ein Koffer für Berlin“ lohnt sich nicht nur musikalisch, sondern auch der Text ist eine Bereicherung.

Ein Besuch auf seiner offziellen Seite lohnt sich.

Weiterführende Links

Link zum Buch – Diogenes Verlag

Ian McEwan Die Kakerlake bei Diogenes

Die Website des Autors

Weitere Rezensionen

„Maschinen wie ich“

Peter Mohr in Literaturkritik.de.

Ruprecht Frieling in Literaturzeitschrift.de

missmesmerized

Literaturblog Günter Keil

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Benutzerbild von Connie Ruoff

Connie Ruoff

Mein Name ist Connie Ruoff, ich bin 1960 geboren, habe Philosophie und Germanistik studiert. Damit mir zu Hause nicht langweilig wird, studiere ich"Bloggen professionell gemacht" in der Fernakademie. Ich lese alles, was ich finden kann.

1 Kommentar zu „„Die Kakerlake“ von Ian McEwan (Rezension)“

  1. Pingback: Erkenntnis Und Schönheit | Ian McEwan | SCHREIBBLOGG 2021

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